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„Wir sind immer ausgeliefert!“

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Achtundneunzig Männer, dunkelhäutig, kleingewachsen, hocken rund um das Bohrloch. Der Boden ist wie die Haut eines Wasserbüffels, der längst vergessen hat, wie Wasser ist. Aus dem Bohrloch wird erst Wasser kommen, wenn die Stromleitung für die Pumpe quer über das Ödland gelegt ist. Hinter ihnen, unter einer Tamariske mit gelben Blättern eng aneinandergedrängt, kauern die Frauen mit ihren Kindern. Seit einer Woche gehört das Land den achtundneunzig Familien. Unberührbare sind Landbesitzer geworden!

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Achtundneunzig Männer, dunkelhäutig, kleingewachsen, hocken rund um das Bohrloch. Der Boden ist wie die Haut eines Wasserbüffels, der längst vergessen hat, wie Wasser ist. Aus dem Bohrloch wird erst Wasser kommen, wenn die Stromleitung für die Pumpe quer über das Ödland gelegt ist. Hinter ihnen, unter einer Tamariske mit gelben Blättern eng aneinandergedrängt, kauern die Frauen mit ihren Kindern. Seit einer Woche gehört das Land den achtundneunzig Familien. Unberührbare sind Landbesitzer geworden!

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Kommt aus dem Schacht bald das Wasser und vom Himmel rechtzeitig der Monsun, dann werden sie von dem Land leben können, das ihnen die Regierung gegeben hat. Ich frage: „Bleibt der Strom aus und der Monsun, was dann?“ Arun Das, zwergenhaft, mit einem Gesicht wie gefaltetes Pergament, seit dreißig Jahren der „Acharya“, der Weise und Alte, sagt: „Wir sind immer den Händen der Gewaltigen ausgeliefert.“ Er lacht: „Von einer Hand der anderen weitergereicht, oder von einer Gewalt der anderen entrissen.“

Ich bin mit einem Jeep gekommen, und neben mir steht die Obrigkeit. Einer der Männer springt auf und beteuert, wie bei einem Verhör: „Ich bin kein Naxalit!“ Maokommunisten sind einmal hier eingedrungen, und die Bauern haben, gemeinsam mit der Polizei, die Eindringlinge verjagt. Aber die Unberührbaren, die Landlosen, sind von allen terrorisiert worden, von Bauern, Polizisten und Naxaliten. Zurückgeblieben sind die Angst und die Denunziation. Der District Magistrate sagt: „Deshalb sind wir gekommen. Deshalb haben wir die Bodenverteilung im Distrikt hier, in Madhuban, begonnen.“

District Magistrate Dhube ist ein

Bezirkshauptmann mit unbegrenzter Verantwortung und fast unbegrenzten Vollmachten, die jetzt durch den Ausnahmeaustand noch verschärft sind. Er hat den Bauern von Madhuban Land weggenommen, das sie an sich gerissen hatten, und es den Landlosen gegeben: 100 Acres, achtzig Hektar; ein Acre für jede Familie. Zwei Acres bleiben aufgespart für die Schule, die, wenn alles gut geht, hier gebaut werden wird. Dhube, kaum fünifunddreißig Jahre alt, sehr fest und sehr von seiner Aufgabe erfüllt, weiß: „Der Acre, den jeder bekommen hat, ist schon von allen Seiten bedroht, von Dürre und Von Flut, vom Bauern, der ihn wiederhaben will, vom Nachbarn, dem mit dem ersten Fußbreit eigenen Landes die Gier nach mehr gekommen ist, und vor allem von der Zeit, die hier im Bund mit der Vergangenheit ist.“

Arun Das spricht weiter: „Wenn nach zwei Wochen aus dem Seil acht noch immer kein Wasser gekommen ist, dann werden zuerst die“ und er eeigt auf die Frauen, „ins Dorf zurückgehen und den Bauern bitten, daß sie ihm wieder dienen dürfen. Wenn dann noch der Monsun ausbleibt, gehen auch wir. Dann wissen wir, es soll eben nicht sein, daß jene

Landbesitzer werden, die als Landlose geboren worden sind.“ Dem District Magistrate gefällt das nicht. „Jetzt sind wir die Gewalt. Ihr habt es ja gesehen. Wir haben den Bauern das Land weggenommen und euch gegeben.“ Dhube weiß, und hat es gesagt, daß die Trockenheit die stärkere Gewalt ist, und der Bauer die

lokale. „Wir werden die Leitung legen, damit die Pumpe rechtzeitig zu arbeiten begint. Ich habe zwei Naxaliten gefangen und ich werde einige Bauern einsperren.“ Entschlossenheit, Technik und Zwang, glaubt er, ergeben in wohldosierter Mischung den Fortschritt.

Madhuban liegt auf einer Ebene,

die nur vom Horizont begrenzli ist. Steine, Staub, im Juni die Sommerhitze, im Jänner der Winterfrost von Bihar; wie kann hier etwas gedeihen? „Genug,, nur nicht für uns“, sagt Arun Das. „Die Bhumdkars sind längst reich geworden.“

Der Kern des Dorfes sind dreißig „Puccahäuser“, Häuser aus Ziegeln und Stein. Die Grundbesitzer sind aus der Kaste der Bhumikar; die niedrigste aller Kasten, Shudras, dodi immer noch hoch über den Unberührbaren stehend, und Landbesitzer. Reich und fromm und herrisch. Wer aus seiner Kaste in eine andere heiraten will, wird geprügelt bis er weich wird und weiß, was gut für die Kaste ist. Rund um den Dorf-

kern, durch einen Lehmstreifen, der mit Fäkalien gepflastert ist, von dem Viertel der Bhumikars getrennt, sind die „Kachchahäuser“, die Hütten aus Lehm der Landlosen und der Unberührbaren. Vom Brunnen der Bhumikars dm Zentrum des Dorfes fließt das Wasser durch eine Rinne in das Viertel der Unberührbaren; immer weniger Wasser, je tiefer es in die Monate der Trockenheit geht.

Die Mädchen und jüngeren Frauen verrichten die „unreinen Arbeiten“ in den Häusern der Bhumikars, Tiere sind rituell reiner als sie. Die älteren Frauen hatten an jedem Morgen den Fäkalienstreifen zu kehren. Die Männer waren auf den Feldern, und gegen Mittag waren dann auch die (Trauen auf die Felder gegangen.

„Wir haben vom Landherrn Getreide bekommen, das für ihn zu schlecht war, und das er selbst den Frauen in seiner Familie nicht geben konnte. Und die dürfen nur essen, was für den Markt schon zu .schlecht ist.“ Geld gab es nur, wenn einer in seinem „Kachchähaus“ seine Tochter verheiratete, wenn einer in f.inem „Kachchähaus“ starb. Eine Tochter verheiraten, einen Verstorbenen verbrennen, das kostet bares Geld. „Der Londherr bongte uns das Geld, und wir fragten nicht nach den Zinsen. Wir wußten, daß wir sie nie würden zurückzahlen können und das Geld uns fester an ihn binden würde.“ Jetzt stehen die Lehmhütten leer Und auf dem Grenzstreifen um die „Puccahäuser“ vertrocknen die Fäkalien.

Madhuban war 'Naxalitengebiet, und die Polizei hat hier gehaust. Eine Handvoll Maoisten hat hier militärisch nichts und politisch wenig erreicht und ist wie ein revolutionäres Schattenbild in einem Land, das nie einen Bauernaufstand gekannt hat, vorbeigezogen. Doch die Angst ist geblieben — nicht vor den Naxaliiten, die fortgegangen sind, sondern vor den Denunzianten, die bleiben. Die Bhumikars haben gelernt, daß sie sich die Gewalttaten gegen Unberührbare, denen es an Demut gebricht, ersparen können, wenn sie nur richtig denunzieren.

Im Frühjahr 1975 hatten die Bhumikars von Madhuban in einem „Kachchähaus“ das „Naxalitenver-steck“ entdeckt. Die Polizei umstellte die Hütte und schoß durch die Lehmmauer dn das Haus hinein. Siebzehn

tote oder sterbende Landlose wurden dann herausgetragen, keiner in der Hütte war am Leben geblieben. Aber man fand keine einzige Waffe, kein Flugblatt, keine Maoliteratur.

Das „Naxalitenversteck“ war übrigens die Hütte des Arun Das. Er war noch auf dem Felde, und sie hatten auf ihn gewartet. „Wir wollten die Bauern bitten, uns doch Geld \für unsere Arbeit zu geben, zwei Rupien am Tag. Einer von uns hat es den Bauern verraten. Die Bauern haben daraufhin die Polizei geholt.“ Seither ist die Denunziation die Waffe der Bhumikars, und mit dem Ausnahmezustand ist sie die Waffe eines jeden gegen jeden geworden. Der Unberührbare, der seit einer Woche Land besitzt, aber dem Nachbarn dessen Land oder die Frau neidet, beginnt sich schüchtern mit diesen Methoden anzufreunden. Nur Dhuba steht da im Weg. Dhube kennt die Menschen und weiß, daß im Dorfe das Land um so viel teurer ist als das Menschenleben. Deshalb hat er selbst den Par-zellierungsplan 'gezeichnet und in drei Wochen Arbeit — die Nächte schlief er auf dem Feld — die Grenzen markiert. „Die Bihumikars geben Land nie auf, das sie einmal besessen haben. Und die Unberühnbaren werden übereinander herfallen. Ich weiß, die zehn Stärksten von ihnen haben sich schon zusammengetan. Sie wollen Bihumikars werden. Die anderen werden es, wie alles übrige, hinnehmen. Doch mein Landplan ist unverrückbar.“ Anun Das begründet das so: „Mit einem Acre verhungert man nicht, aber man hat Hunger. Hätte man zwei Acres, dann wäre der Hunger gestiült. Und) mit drei Acres ist man ein richtiger Landbesitzer.

Die neuen Hütten stehen auf dem Grund der Unberührbaren. Ich frage einen von ihnen: I

„Kannst du von deinem Acre leben?“

„.Knapp, Sahib, wenn das Jahr gut

ist.“

„Wenn das Jahr aber schlecht ist?“ „Werde ich au dem gehen, der mir hilft.“

„Du kannst dir nicht selbst helfen?“

„Wie könnte ich das?“

„Hast du jemals Boden besessen?“

„Keiner von uns durfte Land besitzen, oder auch nur die Hütte, in der er wohnte.“

„Und wenn der Bhumikar das Land wieder holt?“

„Wird uns die Regierung beschützen.“

„Wirst du selbst dein Land nicht verteidigen?“

„Wie könnte ich?“

Arun Das jedenfalls will das Land behalten, unter allen Umständen. „Und einige sind schon unter uns, die das Land, ihr Land, verteidigen wollen; sie wollen echte Grundbesitzer werden, mit mehr Land.“

Dhube ist aus der Hauptstadt von Bihar, Patna, gekommen. Er besitzt alle Vollmachten. Er kann verfügen, er kann sogar einsperren. Solange er hier ist, ist er die Macht, übt er die Gewalt aus, ist er der Arm der Indira Gandhi. Er wird zurückfahren, und Patna ist 90 Kilometer weit; Kachchastraße, Lehmstraße, Delhi und die Indira sind noch viel weiter. Die früher hier an der Macht waren und Gewalt ausgeübt haben, die bleiben.

In Indien gibt es 600.000 Dörfer, und in jedem dieser Dörfer gibt es eine Amtshütte, und an der Wand der Hütte hängt ein Bild der Indira neben der Tafel mit den 20 Punkten. Unter dem Bild sitzt manchmal ein Funktionär, und der ist nicht immer ein Dhube. Wie er auch ist, so muß er doch eines Tages in die Stadt zurück, zum Amtssitz. Unter dem Bild der Landesmutter sitzt, das Zwanzig-Punkte-Programm wie „Om Mane Padme Hum“ vor sich herleiernd, in den meisten Dörfern schon die lokale Gewalt und ruft den Dorfpolizisten in die Stube! Exekutoren des Ausnahmeaustandes, geschützt durch den Ausnahmezustand.

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