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Wir sind zu satt, um zu helfen

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Noch im Juli behauptete der „Spiegel" im Gegensatz zur FURCHE (25/84), es gäbe in Afrika keine flächendeckende Hungersnot. Jetzt gab das deutsche Magazin seinen Irrtum zu: Auf dem schwarzen Kontinent hungern 150 Millionen Menschen. Das Hungerepizentrum liegt im marxistischen Äthiopien.

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Noch im Juli behauptete der „Spiegel" im Gegensatz zur FURCHE (25/84), es gäbe in Afrika keine flächendeckende Hungersnot. Jetzt gab das deutsche Magazin seinen Irrtum zu: Auf dem schwarzen Kontinent hungern 150 Millionen Menschen. Das Hungerepizentrum liegt im marxistischen Äthiopien.

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„Ich halte die Situation in Äthiopien für schlimmer als alles, was ich 1980 als Leiter des UNO-Programms in Pnom Penh miterlebt habe. Sogar in Kambodscha hat es nie dieses Maß an Unterernährung gegeben", sagt Kurt Janson, stellvertretender UNO-Generalsekretär. Bis zum heutigen Tag sind in Äthiopien minde-

stens 300.000 Menschen verhungert, die Dunkelziffer liegt aber sicher noch höher.

Nach Schätzungen der Caritas wird bis Ende 1984 eine Million Menschen dem Hungertod zum Opfer gefallen sein. Besonders tragisch ist das Schicksal der Kinder: 500.000 sollen nach Schätzungen des UNICEF-Direktors James Grant als Folge der Dürrekatastrophe körperlich und geistig behindert bleiben. Insgesamt 1,1 Millionen Tonnen Nahrungsmittel wird Äthiopien benötigen, um die sechs bis neun Millionen vom Hunger gequälten Menschen am Leben zu erhalten.

Doch ein Großteil der Todesopfer hätte gerettet werden können,

wenn die Hilfsmaßnahmen früher gestartet worden wären.

Erst seit dem 23. Oktober wird von den westlichen Regierungen und der Sowjetunion in großem Maße geholfen. Erst mußten Kinder vor laufender Kamera eines BBC-Teams und auf den Bildschirmen der ganzen Welt sterben, ehe man in Washington, im EG-Palast Brüssels und im Kreml Krisenrat hielt.

Dabei wissen Experten wenig-

stens seit 1982 von der drohenden Hungersnot in Ostafrika: Die FAO unterhält ein Beobachtungssystem für Feldfrucht^1 und Viehstandsprognosen, das schon im Dezember vor zwei Jahren Alarm schlug: „Wir haben schon damals alle Regierungen der Industriestaaten auf die gefährliche Situation in Äthiopien aufmerksam gemacht", sagt Barbara Huddieston von der FAO-Zen-trale in Rom.

„Die Welt hat zu spät reagiert, weil sie zu satt ist", sagt Robert Steiner, Österreichs Vertreter in Sachen FAO im Landwirtschaftsministerium. Doch unsere Trägheit und die Dürre sind nur zwei Gründe dafür, warum Äthiopien so lange effiziente Hilfe verweigert wurde:

In Äthiopien wurde Hunger als Waffe gegen Andersdenkende im Ost-West-Konflikt eingesetzt.

Die Sowjetunion hinkte den westlichen Hilfslieferungen zunächst hinterher. Doch dann entschlossen sich die östlichen Freunde von Staatschef Mengistu Haile Mariam, den „imperialistischen Samaritern" nicht allein das Feld zu überlassen. Gekränkt vom Vorwurf, dem afrikanischen Verbündeten nichts außer Waffen und eine kaum funktionierende Staatsform gebracht zu haben, begannen auch die Sowjets eine Luftbrücke aufzubauen.

46 Prozent des Bruttonational-produkts gibt die äthiopische Zentralregierung für Waffenkäufe aus; an die 2,5 Milliarden Dollar soll der große Bruder im Osten am bettelarmen Äthiopien verdient haben. Geradezu pervers liest sich Äthiopiens Außenhandelsstatistik:

Importierte das ostafrikanische Land 1980 139.000 Tonnen Nahrungsmittel, führte es fast genauso viel, nämlich 120.000 Tonnen aus. Und für die bombastischen Revolutionsfeiern zum zehnten Jahrestag der sozialistischen Machtübernahme am 12. September soll Mengistu an die 100 Millionen Dollar ausgegeben haben.

Den Vorwurf aus dem Westen, daß er die Rebellen in den Provinzen Eritrea und Tigre aushungern will, muß sich Mengistu spätestens jetzt gefallen lassen, nachdem er einen Waffenstillstand mit den „Terroristen" ablehnte.

Auch der Westen soll seine Hilfe bewußt zurückgehalten haben.

Vor Start der Hilfslieferungen erhielt das große Land eine Entwicklungshilfe von sechs Dollar pro Kopf, während das westlich orientierte Somalia 20 Dollar pro Kopf und Nase kassierte. Eine Kommission des Europäischen Parlaments etwa entschied 1983, Äthiopien keine zusätzliche Nahrungsmittelhilfe zu gewähren, weil „ein großer Teil der Lebens-mittelhüfe an die Armee verteilt wird und man damit indirekt die äthiopische Militärdiktatur stützt, die mit chemischen Waffen gegen Befreiungsbewegungen Krieg führt".

Die Katastrophe in Äthiopien wird erst 1985 ihren Höhepunkt erreichen: „Da der Regen, der im Frühjahr fällig wäre, sicher ausbleibt", sagt Georg Specht vom Deutschen Caritasverband, „braucht Äthiopien mindestens für die nächsten zwölf Monate fortlaufende Unterstützung. Es ist nur zu hoffen, daß die internationale Hilfe mangels öffentlichem Interesse nicht bald wieder abebbt."

Für den österreichischen FAO-Beauftragten im Landwirtschaftsministerium Robert Steiner ist die Krise schon während

der Sahel-Katastrophe verlängert worden, als man eine Rehabilitation der Region verabsäumte: „Die Welt ist nur bereit, eine Notstandshüfe zu gewährleisten. Eine eigenständige Versorgung der Region zu sichern, dazu ringt sie sich nicht durch. Doch die dafür notwendigen Maßnahmen werden bald undurchführbar sein."

Seit Ende Oktober ist aus der Ost-West-Konfrontation ein Wettlauf der Ersten Hilfe entstanden. Hoffentlich gilt es länger als nur ein paar Wochen, daß man keine marxistischen oder kapitalistischen, sondern hungrige Bäuche füllt.

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