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Wir sollten wieder lernen, miteinander zu leben

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Wir kennen heute praktisch nur mehr die Klein- und Kernfamilie, die neben weitgehenden Funktionsverlusten (zum Beispiel Kranken- und Altersversorgung) auch einen Funktionsgewinn zu verbuchen hat: nämlich Intimität, persönliche Nähe. Damit ist allerdings psychische Mehrbelastung verbunden.

Dies gilt besonders für Familien mit einem behinderten Kind. Die Belastung ist besonders für die Mutter gestiegen. Früher war oft noch eine Großmutter, eine Tante da, die direkte Arbeit mit dem Kind wurde aufgeteilt, es gab Entlastung durch gemeinsames Gespräch, ein gemeinsames Bewußtsein des Tragens.

Heute ist die Mutter allein auf das behinderte Kind konzentriert. Sie ist isoliert, muß Tag und Nacht zur Verfügung sein. Das ist oft nicht alles. In manchen Fällen läßt der Mann die Familie im Stich, Geschwister leiden unter der abwertenden Stigmatisierung und beginnen, etwa wenn sie heiraten wollen, den Behinderten zu verleugnen.

Die Verwandtschaft zieht sich zurück. Ambivalente aggressive Gefühle gegen das Kind sind unvermeidlich. Der Mutter wird oft das sogenannte Helfersyndrom für ihre Aufopferung oder ein Hang zum Masochismus nachgesagt.

Die Erkenntnis, ein behindertes Kind zu haben, bedeutet für eine Frau im allgemeinen einen Schock, der meist damit zusammenhängt, wie die Behinderung mitgeteilt wurde. Die meisten beklagen sich später, man hätte ihnen nicht gleich die volle Wahrheit gesagt. Aber es ist oft auch für die Ärzte schwierig, die Eltern sogleich voll zu informieren.

Die Mütter empfinden eine plötzliche Leere wie bei einem unerwarteten Todesfall. Jedes Denken an die Zukunft setzt aus. Das Erfahrene ist unakzeptabel. Meist waren die Eltern in freudiger Erwartung, und nun sind da Gefühle wie Angst, Abscheu, Scham, Trauer, Niedergeschlagenheit, Gekränkheit, Schuldgefühle, Haß, Zorn, Aggressivität, Rührung und Mitleid.

Die Eltern, die Hilfe und Orientierung suchen, erfahren Verunsicherung. Sie nehmen Mühe, Kosten, weite Fahrten auf sich, um einen bestimmten Arzt aufzusuchen, der einen Ruf als Fachmann hat und dem sie vertrauen. Eine Fülle von Therapien wird von allen Seiten angeboten.

So kommen mehr und mehr Therapien zusammen. Von medizinischer Seite ist viel gegen diese Art von Poli-Therapie zu sagen. Man weicht von erzieherischen Maßnahmen eher ab und setzt alle Hoffnung in die Therapie.

Ich frage mich immer, woher diese Mütter die Kraft nehmen, trotz der hier aufgezählten widrigen äußeren Umstände...

Wir müssen wieder lernen — Behinderte und Nichtbehinderte —, miteinander zu leben, den Alltag zu teilen, Die Beseitigung der trennenden Schranken ist auch ein Aspekt der Normalisierung.

In dem Buch „Behindertenreport“ findet man die Erlebnisse eines Gesunden, der sich mit einem Rollstuhl durch die Stadt fahren ließ: „Der Behinderte erfährt sich als Objekt, nicht als Subjekt. Das beginnt schon im Elternhaus. Die Entmündigung des Behinderten durch die Eltern zwmgt ihn in eine passive Rolle, und die Vorurteile der Umwelt, die den Behinderten nicht voll nehmen, bestärken die Passivrolle. Es ist schwer, sich daraus zu befreien. (...) Der Behinderte hat es schwer, normal aufzutreten. (...) So wird man auf Warten, Geduld und Ergebenheit gedrillt. Nicht mit böser Absicht, aber es geschieht eben.“

Oft muß man die Unsicherheit und Verlegenheit der Nichtbehinderten überwinden helfen, damit die Eingliederung Behinderter in das Leben der Nicht-Behinderten überhaupt möglich wird.

Folgende Grundprinzipien sollten für unser Zusammenleben mit behinderten Menschen gelten:

• Behinderte Personen sind menschliche Wesen im vollen Sinn. Sie sind mit unantastbaren, vorgegebenen, unverletzlichen Rechten ausgestattet. Der Mensch ist von der Empfängnis ab, gleichgültig wie sein körperlicher und geistiger Zustand sein wird, im Besitz einer menschspezifischen einzigartigen Würde, die einen autonomen Wert beinhaltet.

• Da der behinderte Mensch eine Person mit allen Rechten ist, muß man ihm helfen, am gesellschaftlichen Leben auf allen Ebenen, die seinen Fähigkeiten entsprechen, teilzunehmen.

• Der Wert einer Gesellschaft und Zivilisation mißt sich an eben dieser Achtung, die sie den Schwächsten ihrer Mitglieder zollt. Eine Diskriminierung der Schwachen von Seiten der Starken und Gesunden ist unmoralisch und abzulehnen.

• Die Teilnahme der Behinderten am sozialen Leben hat zur Voraussetzung, daß wir uns an drei Prinzipien ausrichten: Integration gegen Isolierung und Absonderung: Der Behinderte wird Subjekt in der Familie, im Kindergarten, in der Schule und am Arbeitsplatz.

Normalisierung: heilpädagogische Förderung bis zu dem Grad, daß der Behinderte imstande ist, ein möglichst normales Leben in der Gesellschaft zu führen.

Personalisierung: Auch der Behinderte ist Person, ist Individualität. Das heißt, weg von gleich-macherischen Tendenzen, weg von der Anonymität, in der ein Behinderter oft zu leben gezwungen ist (etwa in Heimen).

Oft wird die Frage nach dem Sinn von Behinderungen gestellt. Wozu das viele Leid? Viktor Frankl nennt drei Bereiche, in denen der Mensch mit der Schwere des Lebens unausweichlich konfrontiert wird: Jedem Menschen widerfährt Leid.

Jeder Mensch begegnet der Schuld, wo ihm die Möglichkeit fehlt, das Geschehene ungeschehen zu machen.

Und jeder Mensch trifft mit dem Tod zusammen.

Ich kann Ihnen kein Rezept anbieten. Alles, was mit Sinn zusammenhängt, bleibt letztlich beim einzelnen. Wir fühlen, wo in unserer menschlichen Existenz Sinn erfahren werden kann. Vielleicht können Sie mit dem folgenden Satz die Sinnfülle des Lebens abschätzen: Wenn ich nichts mehr habe, wofür ich bereit bin zu leiden, dann fehlt mir alles, wofür es sich lohnt zu leben.

Der Autor ist Professor an der Universität Klagenfurt.

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