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Flüchtlingshilfe 1945: Wir teilten, weil wir teilen mußten

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Der Dokumentarbericht der Oberösterreichichen Landesregierung „Oberösterreich April bis Dezember 1945" erschien gerade zur rechten Zeit. Er macht uns bewußt, daß die Flüchtlingsprobleme im heutigen Europa im Vergleich mit denen der Nachkriegszeit materiell viel weniger schwer wiegen. Es kann auch helfen, die Legende zu korrigieren, Nachkriegs Österreich sei Flüchtlingen gegenüber soviel netter und verständnisvoller gewesen als das heutige.

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Der Dokumentarbericht der Oberösterreichichen Landesregierung „Oberösterreich April bis Dezember 1945" erschien gerade zur rechten Zeit. Er macht uns bewußt, daß die Flüchtlingsprobleme im heutigen Europa im Vergleich mit denen der Nachkriegszeit materiell viel weniger schwer wiegen. Es kann auch helfen, die Legende zu korrigieren, Nachkriegs Österreich sei Flüchtlingen gegenüber soviel netter und verständnisvoller gewesen als das heutige.

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Stünden der Lösung des Flüchtlingsproblems im Geist der Mitmenschlichkeit keine psychologischen und politischen Hindernisse entgegen, wäre sie ohne weiteres möglich. Eineinhalb Millionen Menschen haben im ehemaligen Jugoslawien ihre Heimat verloren. Hunderttausende Flüchtlinge überschwemmten Kroatien und Slowenien. Da Deutschland die Grenze dicht machte, machte auch Österreich für Mittellose die Grenze dicht.

Dabei muß hierzulande niemand Angst haben, Hunderttausende von Flüchtlingen könnten Österreich oder Deutschland in eine Hungersnot stürzen oder eine Welle von Seuchen auslösen. Das war 1945 allerdings anders. Verglichen mit den Menschenmassen, die im Zweiten Weltkrieg kreuz und quer durch Europa getrieben worden waren und das Kriegsende fern der Heimat erlebten, ist die Situation heute harmlos.

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Der Paperback aus Oberösterreich (OÖ. Landesarchiv, „Quellen zur Geschichte Oberösterreichs") wird doppelt interessant durch den Umstand, daß das Thema eben nicht von heutigen Historikern aufgrund heutiger Quellenstudien dargestellt wird, sondern aus der Perspektive eines Österreich, welches die Nachkriegszeit mit ihren Problemen gerade erst hinter sich gebracht hatte.

Die Beamten des Landesarchivs, denen die „Herstellung eines Dokumentarberichtes zur 10jährigen Wiederkehr der Neuerrichtung der Republik Österreich" zugedacht war (alle Zitate dieses Beitrages sind in der originalen Schreibweise wiedergegeben), erfuhren 1955 weniger als drei Monate vor dem Jubiläum von ihrem Glück. Sie konnten sich nur noch darauf beschränken, unter der Leitung von Landesarchivdirektor Hofrat Dr. Erich Trinks Dokumente zu sammeln, zu sichten und eine Auswahl vorzulegen. Zeitgeschichte als historische Disziplin existierte damals in Österreich ohnehin bestenfalls erst in Ansätzen.

Einer der Vorzüge des Materials ist denn auch gerade der weitgehende Mangel an Reflexion und, da die Dokumente ursprünglich für den Amtsgebrauch und nicht für die Publikation bestimmt gewesen waren, der Verzicht auf Selbstzensur. Dieser fällt gerade bei den Berichten zur Flüchtlingssituation in der unmittelbaren Nachkriegszeit ins Auge.

Man muß die absoluten und relativen Flüchtlingszahlen im Frühjahr, Sommer und Herbst des Jahres 1945 vor dem Hintergrund einer schweren gesamteuropäischen Hungersnot sehen. Die Frühjahrsaussaat war nur sehr eingeschränkt möglich gewesen. Europa konnte nicht nur das Jahr 1945, sondern auch die folgenden nur mit amerikanischer Lebensmittelhilfe überleben.

Allein 180.000 Ungarn

Anfang Mai, also unmittelbar nach der Befreiung, befanden sich 600.000 bis 900.000 „landfremde Personen" in Oberösterreich. Neben Resten der deutschen Wehrmacht und ihrer freiwilligen und unfreiwilligen Verbündeten, darunter allein 180.000 Mitglieder der ungarischen „Pfeilkreuz-ler", waren es vor allem von den Nazis als Arbeitssklaven verschleppte Menschen aus aller Herren Länder, ehemalige Kriegsgefangene, vertriebene Volksdeutsche, Südtiroler und ehemalige KZ-Häftlinge, vor allem aus Mauthausen und dessen zahlreichen Neben-, Außen- und Arbeitslagern.

Durch die heimkehrenden Österreicher, die nicht in den sowjetisch besetzten Osten des Landes weiterziehen konnten oder wollten, stieg die Zahl der Flüchtlinge bis Juni auf 1,5 Millionen. Allein im Bezirk Ried wurden 50.000, im Bezirk Gmünden nicht weniger als 120.000 Ausländer gezählt. Im Bezirk Vöcklabruck stand das Verhältnis der Einheimischen zu den Fremden überhaupt eins zu eins. Als im Juli bekannt wurde, daß die Rote Armee auch das Mühlviertel besetzen werde, kam von dort eine weitere Flüchtlingswelle, während immer weitere Transporte repatriierter Österreicher eintrafen.

„DP" oder „displaced person" wurde eines der Schlüsselwörter der Zeit. Darunter wurde wertfrei jeder verstanden, der sich unfreiwillig und nicht als Angehöriger einer Besatzungsmacht oder Kriegsgefangener außerhalb seines Heimatlandes aufhielt. Ein anderes Schlüsselwort hieß „Repatriierung", Rückführung ins Herkunftsland.

Bis Ende Juli konnten 195.000 Ausländer repatriiert werden, darunter 90.000 Russen, 48.000 Franzosen, 4.300Tschechen, 1.800 Holländer und 54.000 Angehörige anderer Staaten, unter ihnen Griechen, Schweizer, Norweger, Belgier, Italiener, Jugoslawen, Bulgaren, Rumänen und so weiter. Im September verließen die ersten 15.000 Ungarn und 12.000 Niederösterreicher Oberösterreich. Abgesehen von den Österreichern aus anderen Bundesländern blieben noch 300.000 Ausländer im Land, die meisten in 527 Lagern, von denen aber nur 25 vom Land Oberösterreich selbständig verwaltet wurden. Die übrigen unterstanden den Alliierten.

„Heimkehr" in den Tod

Für viele Repatriierte wurde - vor allem, wenn sie aus der Sowjetunion stammten - die Rückführung zu einer Reise in den Tod. Aber dies ist ein Gesichtspunkt, der in den wieder vorgelegten oberösterreichischen Dokumenten nicht auftaucht. Dies ist begreiflich, der Staatsvertrag war schließlich noch nicht abgeschlossen, Österreich noch von den vier Siegermächten besetzt, als der Rückblick erstmals erschien.

Befremdlich hingegen, aber für die zehn Jahre nach dem Krieg in Österreich vorherrschende Sicht der Dinge überaus signifikant, ist die Sprache, in der auf die ehemaligen KZ-Häftlinge (und überhaupt auf die „DP's") eingegangen wird. Es heißt da etwa: „In Linz wurde nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen einige Tage von freigelassenen, meist kriminellen KZ-Häftlingen viel geplündert. Die amerikanischen Truppen schritten schließlich dagegen ein, doch dauerten am Stadtrand die ärgsten Räubereien noch cirka 14 Tage fort. Im Gemeindegebiet von Steyregg, wo sich im Gegensatz zur Umgebung keine amerikanischen Besatzungstruppen befanden, terrorisierten cirka 1.000 bis 1.500 zum Teil bewaffnete ehemalige Häftlinge des KZ Mauthausen die Bevölkerung. Sie plünderten 15 Bauernhöfe völlig aus und vernichteten den gesamten Viehbestand. Auch zu Vergewaltigungen kam es. Viele Menschen sammelten sich im Bereich der Stadt Enns, um von dort die Demarkationslinie (zwischen US- und sowjetischer Besatzungszone, Anm. d. Red.) zu überschreiten. Sie bedrückten die einheimische Bevölkerung durch tägliche Plünderungen und eigenmächtige Einquartierungen schwer... Ebenso wurde im Bezirk Ried in den ersten Tagen nach dem Zusammenbruch geplündert. Zum Teil unterstützten US-Soldaten die angeführten Gewalttaten, oder beteiligten sich selbst an ihnen."

Kein Zweifel: DP's begingen eine große Zahl von Gewalttaten. Kein Zweifel: Darunter auch ehemalige Mauthausen-Häftlinge. Diejenigen, die wegen krimineller Delikte ins Lager gekommen waren, hatten ganz im Sinne der NS-Politik im Lager die Politischen terrorisiert und terrorisierten, sowieso besser genährt als die Politischen, nach der Befreiung die Bevölkerung. Daß die Befreiung von vielen Leuten keineswegs als solche, sondern als Zusammenbruch gesehen wurde, dokumentiert auch der amtliche Sprachgebrauch immer wieder.

Dokumente, die der Lage der DP' s gerecht werden, suchen wir in dem „Dokumentarbericht zur 10jährigen Wiederkehr der Neuerrichtung der Republik Österreich" (wieder einmal wird das Wort Befreiung vermieden) nicht. Sie rauben, plündern, wenden Gewalt an, quartieren sich eigenmächtig ein. Die Frage, wieviele der Gewalttaten auf Hunger und Not in einem Land ohne Infrastrukturen und geregelte Versorgung zurückzuführen sein mögen, taucht nicht auf. Auch den Zehntausenden Polen im ehemaligen „Oberdonau" wird die Tatsache, daß sie nicht freiwillig gekommen, sondern als Arbeitssklaven in Hitlers Reich verschleppt worden waren, mit keinem Nebensatz gutgeschrieben.

Nicht alle waren gleich

Selbstverständlich kommt das Wort „Juden" nicht vor. Tatsache ist, daß Tausende und Zehntausende Juden, die die Lager überlebt hatten und oft auch noch im Nachkriegs-Polen um ihr Leben zittern mußten, in ganz Europa und auch in Österreich unterwegs waren und eine Möglichkeit suchten, nach Palästina zu gelangen. Und daß sie, vornehm ausgedrückt, zu den weniger gern gesehenen DP's gehörten. Auch daran muß man erinnern, wenn Nachkriegs-Österreich heute als leuchtendes Beispiel für die Integrierung großer Zahlen von Flüchtlingen dargestellt wird. Die Volksdeutschen aus Böhmen und Mähren waren nicht gemeint, Juden dafür sehr oft, wenn in den Nachkriegsjahren mit dem gewissen abfälligen Unterton das Wort von den frechen, lästigen, endlich fortzuschaffenden DP's fiel.

Es ist gewiß verständlich, wenn 1945 die Sorge der Behörden vor allem der eigenen Bevölkerung galt und wenn man die Fremden loswerden wollte. Menschen mit großartiger Gastfreundschaft - gegenüber den ungarischen Flüchtlingen von 1956 waren wir es vielleicht. Aber 1945 und 1946 und 1947, in den Jahren der blanken Not, haben wir keineswegs gern, vor allem aber keineswegs allen Notleidenden gegenüber mit gleicher Hilfsbereitschaft geteilt.

Das Buch aus Oberösterreich zeigt aber nicht nur dies. Es erinnert auch daran, wie man, gern oder nicht, Flüchtlingsprobleme löst, wenn man unbedingt will oder muß. Und die Menschen, die jetzt aus Jugoslawien fliehen, müßten ja nicht ewig bleiben. Vor allem, wenn ihnen die reichen Länder helfen, sich in der Heimat eine neue Existenz aufzubauen. Das aber sollte eine Selbstverständlichkeit sein.

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