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„Wir wollen nicht der Schinken im Sandwich sein“

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Die christlichen Gewerkschaften Lateinamerikas führen ihren politischen Kampf auf mehreren Ebenen und nach verschiedenen Richtungen: einerseits und primär gegen die den freien Gewerkschaften feindlich gesinnten Regierungen, an-derseits aber auch gegen die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten!

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Die christlichen Gewerkschaften Lateinamerikas führen ihren politischen Kampf auf mehreren Ebenen und nach verschiedenen Richtungen: einerseits und primär gegen die den freien Gewerkschaften feindlich gesinnten Regierungen, an-derseits aber auch gegen die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten!

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Beide Supermächte seien sich in einem Punkt ihrer Südamerika-Politik einig: sie möchten Ruhe und Stabilität auf diesem Kontinent. Denn sowohl Moskau als auch Washington würden versuchen, große kontinentale oder gar globale Konfrontationen möglichst zu vermeiden und damit auch die Handelsbeziehungen weiterhin äußerst profitabel florieren zu lassen. Das berichteten der stellvertretende Generalsekretär der CLAT (Südamerikanische Arbeitnehmerzentrale), Luis Enrique Marius (Uruguay) und ein anderer hoher lateinamerikanischer Gewerkschaftsfunktionär, der ungenannt bleiben will - „Ich arbeite in einem Unternehmen und möchte weiterhin dort arbeiten“ - auf einer Pressekonferenz in Wien, zu der der Vorsitzende der Fraktion Christlicher Gewerkschafter im ÖGB, Johann Gassner, eingeladen hatte. Gassner selbst ist einer der vier Vertreter Europas im (christlichen) „Weltverband der Arbeitnehmer“.

In einem „Regime kontrollierter Diktatur“ könnte ein höherer sozialer Standard der Bevölkerung den Interessen der Supermächte abträglich sein: Daher sollten die Sozialstrukturen möglichst unverändert bleiben. Lediglich die Interessen der multinationalen Gesellschaften hätten zu einer kleinen politischen Öffnung - jedoch nicht auf dem Gewerkschaftssektor! -geführt: Da Tote, Verschwundene und Verarmte keine guten Konsumenten darstellen würden, blase in Bolivien, Equador und Peru deutlich sichtbar ein neuer Wind in die Segel.

Im Konzept der nicht nur diktatorischen Regime sind christliche Gewerkschaften - deren Dachverband CLAT Mitglied des „Weltverbandes der Arbeitnehmer“ (früher: „Internationaler Bund christlicher Gewerkschaften“) ist - offensichtlich fehl am Platz. Sie stören scheinbar auch die UdSSR- und USA-Interessen dermaßen, daß in einigen Fällen die Vereinig-

ten Staaten kommunistische Splitter-Gruppen bei ihren Anti-CLAT-Ak-tionen finanziell unterstützt haben.

Mit Ausnahme von Kuba - wo die Mitglieder der christlichen Gewerkschaften die entschiedenste Gegenbewegung zum Kommunismus darstellten und daher seit der Machtübernahme des Castro-Regimes inhaftiert sind - ist die CLAT in allen lateinamerikanischen Ländern vertreten; entsprechend der politischen Konstellation der einzelnen Regierungen natürlich mit unterschiedlicher Effektivität. Bei einem durchschnittlichen Engagement von nur 15 Prozent aller südamerikanischen Arbeitnehmer in Gewerkschaften vertritt die CLAT davon 45 Prozent. Die „unter direktem Einfluß des State Departments“ (Marius) stehende“ORIT zählt 35 Prozent zu ihren Anhängern, die kommunistische SEPUSTAL fünf bis zehn und unabhängige Gewerkschaften zehn Prozent.

Als Einführung in die politische Lage der einzelnen Länder präsentierte Enrique Marius einiges Zahlenmaterial: 500.000 Menschen seien aus Uruguay exiliert, in Argentinien gebe es 7000 politische Gefangene (1000 davon verschwunden) und eine Million Menschen seien aus Paraguay geflüchtet; über Chile wisse man in Europa viel, es sei aber schade, daß immer nur von Chile die Rede sei, nicht aber von der Dauer der Diktaturen in anderen Staaten Lateinamerikas (Paraguay: 24 Jahre, Nicaragua: 40, Haiti: „schon immer“).

Die christlichen Gewerkschaften wollen den Arbeitnehmer in Südamerika zum „hauptsächlichen Nutznießer“ seiner Arbeit machen. Aus der „christlich-humanistischen Geisteshaltung“ müsse der Mensch und nicht ausländische Interessen im Mittelpunkt der Arbeit stehen. Vereint treten Gewerkschaften, bäuerliche Genossenschaften und Lokalorganisationen

der ehemaligen Landarbeiter, die fast ganze Jahr hindurch beschäftig gungslos in den Elendsquartieren am Rande der Großstädte vegetieren, für die stärkere Teilnahme der Arbeitnehmer an Entscheidungen auf allen sozialen Ebenen ein.

Die christlichen Gewerkschaften Lateinamerikas berufen sich auf die Grundwerte des Christentums, die menschliche Person und ihr soziales Wesen, eine solidarische Gesellschaft und den Menschen als Ziel aller sozialen Beziehungen. Gleichzeitig ist auch die Rede von „sozialen Klassen“, „Klassenkampf und „Ausbeutung“. Diese Begriffe werden aber nicht aus den ideologischen, dogmatischen oder wissenschaftlichen Abhandlungen der Marxisten entnommen, die lateinamerikanischen Christgewerkschaften beziehen sie aus der „praktischen Realität“ und definieren sie eigenständig. Allerdings lehnt die CLAT jede Gewalttätigkeit ab und beruft sich auf Beschlüsse der Bischofskonferenz und Don Helder Camara: „Die Gewalt hat immer nur noch mehr Gewalt hervorgerufen.“

Die Zusammenarbeit der CLAT mit den andersorientierten Gewerkschaften funktioniert nur in einigen Ländern und nur bei rein gewerkschaftlichen Grundforderungen. So reicht bei den orthodox-kommunistischen dominierten Gewerkschaften die Frage der Menschenrechte und die der politischen Gefangenen nur bis an die Grenzen von Kuba und der UdSSR: „Sie fragen zuerst nach der politischen Orientierung des Arbeiters, dann erst sprechen sie von der Solidarität der Arbeitnehmer. Die CLAT macht es genau umgekehrt“, erklärte Marius.

Die CLAT sei der Schinken im Sandwich, dessen zwei Hälften sich allzuoft berühren würden. Den Willen zur Selbstentscheidung attackiere die USA, die „kein zweites Kuba“, und die Sowjetunion, die „einen weiteren Fehler wie in Chile“ vermeiden wolle. Mit der aufklärerischen und auch finanziellen Hilfe einiger westeuropäischer Länder (Österreich stelle eine große Hoffnung dar) wolle die CLAT zu einem so fetten Schinken werden, daß das Sandwich unnötig werde.

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