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Wird Notre-Dame ermordet?

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Zum Jahreswechsel zog es auch diesmal wieder einige tausend ausländische Touristen in die Seine-Metropole. Traditionsgemäß versuchten sie, ihr sauer verdientes Geld in den Vergnügungsstätten rund um den Montmartre loszuwerden oder — was ergiebiger ist — die Schönheit der Champs-Elysees, die Romantik der Seine-Quais und die Baukunst von Notre-Dame zu genießen. Doch dieses Mal mochten manche in großer Besorgnis angereist sein. Denn seit Monaten berichtet die internationale Presse von fürchterlichen Veränderungen des Stadbildes.

Wo einst der „-Bauch von Paris“, die Glas-Eisen-Konstruktion der Hallen, seinen nächtlichen Zauber ausstrahlte, gähnen jetzt tiefe Baugruben und lärmen Großmaschinen. 20 Meter unter der Erde entstehen die Kreuzungspunkte der Expreß-Metrolinien Süden-Norden, Westen-Osten, also der größte unterirdische Verkehrsknotenpunkt der Stadt. In einigen Jahren werden Hunderttausende von Fahrgästen an diesem Platz die Züge wechseln, ein riesiges, internationales Geschäftszentrum — ebenfalls unter der Erde — wird den kauflustigen Passanten alle Produkte des Gemeinsamen Marktes und der Entwicklungsländer anbieten. Oberhalb wird eine große Grünanlage entstehen, auf der ein Luxushotel und Büropaläste Platz finden sollen. Diese Planung stößt immer noch auf Bedenken, denn es würde damit die einmalige Chance vergeben, eine neue grüne Lunge im Zentrum der Stadt zu gewinnen.

Die Gäste aus Frankfurt, London und New York konnten den Eiffelturm und den Are de Triomphe diesmal nur ahnen, da ein dichter Nebel die Stadt einhüllte. So blieb den meisten verborgen, was sich an baulichen Schändlichkeiten anbahnt. Nach dem Willen der Städtebauer und der zuständigen zentralen Ministerien wird Paris in den kommenden Jahren mit einem Kranz von hohen Türmen umgeben werden und sich in ein europäisches Manhattan verwandeln. Vorläufig sind nur hinter dem Triumphbogen einige dieser, die schönste Perspektive der Welt zerstörenden Betonungetüme, zu entdecken.

Ein Blick über das Häusermeer, von der Basilika Saore-Coeur aus, läßt den ersten Wolkenkratzer bestaunen, der wie ein häßlicher Zeigefinger in den Himmel ragt. Dieser Turm von Montpamasse kann wirklich nicht zur letzten Errungenschaft europäischer Baukunst gezählt werden. Wie bei den Türmen hinter dem Etoile wurde zuwenig bedacht, wie sehr das harmonische Stadtbild zerrissen wird. Eine schlecht koordinierte Planung, wuchernde Bodenspekulation, politische Intrigen und der kaltblütige Wetteifer junger Architekten trugen dazu bei, daß aus der historisch gewachsenen Stadt ein Experimentierfeld wurde.

Dank hartnäckiger Pressekampagnen kamen die Verantwortlichen buchstäblich in letzter Minute zu der Überzeugung, daß Türme zwar schön sein können, protzige Bürohäuser — vom Stadtparlament noch gar nicht definitiv genehmigt — aber durchaus nicht der Weisheit letzter Schluß zu sein brauchen. So wurden bis Ende 1972 Pläne entwickelt, die zwar in ganz bestimmten Bezirken die Errichtung von 80 bis 90 Hochhäusern vorsehen, sie aber so aufteilen, daß sich der Bewunderer eines ausgeglichenen Stadtbildes nicht zu sehr ärgern muß. Auf alle Fälle scheint die Erhaltung der historischen Innenstadt gelungen zu sein. Die Höhe der Türme wurde auf ungefähr 100 Meter beschränkt (zum Vergleich: der Turm von Montpamasse ist 209 Meter hoch), so daß der freie Ausblick auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt künftig einigermaßen gewahrt bleibt.

Natürlich stellt sich die Frage,warum Paris überhaupt solche Hochhäuser braucht. Das erklärt sich aus der Wohndichte der französischen Hauptstadt, die ungefähr jener von Tokio entspricht. In einem Hochhaus können logischerweise mehr Wohnmöglichkeiten geschaffen werden. Man läßt Flächen frei, auf denen ausschließlich niedrige Häuser zugelassen sind.

Löste die Zerstörung der Hallen schon hitzige Diskussionen aus, die zu politischen Polemiken führten und die linke Minorität des Stadt-' rats auf die Barrikaden riefen, so wird wohl der Ausbau einer Auto-schnellstraße am rechten Seine-Ufer die Gemüter erst recht erregen, denn hier ist der mittelalterliche Kern der Cite direkt betroffen. Die Pariser Presse prophezeit, daß dieses Idyll an der Seine — beliebter Ort für Liebespaare, Clochards, Hippies aller Schattierungen, brave Angler und schönheitstrunkene Maler — zu einer Betonwüste wird. Selbst ernst zu nehmende Zeitschriften wie „Paris-Match“ sprechen von der „Ermordung der Kathedrale Notre-Dame“. Im Stadtsenat kam es deswegen schon des öfteren zu heftigen Auseinandersetzungen und zu Wutanfällen des Präfekten von Paris, der die Stadtväter der Mißachtung der Neutralität und der Ehre der Verwaltung bezichtigte.

Problem Nummer eins ist und bleibt auch in Paris der Straßenverkehr. Die Präfektur gibt den derzeitigen Bestand an Autos mit nicht ganz einer Million an. Nach Meinung anderer Experten ist diese Zahl schon weit überschritten. Fest steht, daß jedes Jahr 8 bis 10 Prozent mehr neue Kraftfahrzeuge angemeldet werden. Laut Verwaltung fahren in der Stadt ständig 80.000 Autos gleichzeitig herum, unabhängige Fachleute reden sogar von 140.000. Nehmen wir beispielsweise Freitag, den 10. November 1972: Beginn eines Wochenendes; es regnete. Am späten Nachmittag war die Weltstadt Paris total verstopft. Die Automobilisten mußten sich zum Teil bis zu drei Stunden auf einer Stelle gedulden, und das in fast allen Stadtteilen. Ganze Heerscharen kamen zu spät zum Abendessen oder versäumten ihre Abendveranstaltungen.

Nun stehen sich zwei Konzepte, die für Abhilfe sorgen könnten, diametral entgegen: Das eine sieht vor, daß die Anzahl der Kraftwagen in der Innenstadt konstant bleiben und nicht mehr ansteigen soll, wobei die Bewohner der Vororte gezwungen werden müßten, ihre Autos am Stadtrand zu lassen und die Metro oder oder den Bus zu benutzen. Die Mehrheit in der Regierung und im Stadtparlament dagegen plädiert für den Bau von Schnellstraßen, um den Verkehr zu entlasten und die Möglichkeit zu bieten, Paris in sage und schreibe 17 Minuten durchqueren zu können.

Dieser Meinung (und sie dürfte sich durchsetzen) entspricht das umstrittene Projekt der Schnellstraße am rechten Seine-Ufer, die — soweit sich die momentane Lage der Verhandlungen abmessen läßt — bis 1976 befahrbar sein wird. Drei verschiedene Versionen wurden vorgelegt, die in den nächsten Monaten auf alle technischen und urbanisti-schen Gesichtspunkte hin untersucht werden sollen. Einleuchtend erscheint die Idee eines 750 Meter langen, zweispurigen Tunnels unterhalb der Seine. Ihr Vorteil wäre die absolute Schonung der jetzigen Seine-Quais.

Die zweite Variante wurde von der Direktion der Stadtplanung erdacht und gibt daher die Ansicht der zuständigen Präfektur wieder. Sie sieht die Konstruktion von zwei versteckten Straßen direkt am Seine-Ufer vor. Die oberen Quais bildeten eine Art Dach. HDas bedeutet, daß sie zwar verbreitert würden, aber ihren Charakter beibehielten. Ein Tunnel im Bereich von Notre-Dame mit Gärten und Fußgängerwegen auf der Oberfläche würde das ungestörte Bild des mittelalterlichen Gotteshauses erhalten.

Die dritte Version — von einer unabhängigen Organisation, A. P. UR. (Atelier Parisien d'Urbanisme) — entwickelte eine revolutionäre Neumodellierung der Quais: Am Ufer der Seine würden zwei Betontunnel nebeneinander oder übereinander gelegt. Sie nehmen vierspurig den gesamten Verkehr auf; aber nur die Anrainer der Quais könnten ihr Haus mit dem Auto verlassen. Alle die sehenswerten Plätze dieser Gegend blieben ausschließlich Fußgängern vorbehalten. Das Projekt der A. P. UR. würde den Passanten eine Neuentdeckung des Flußufers gestatten, ein stundenlanges, ungestörtes Beobachten der Angler und der vorbeituckernden Schiffe und ein geruhsames Wühlen in den ausgestellten Büchern der Bouquinisten. Wenn auch am kostspieligsten von allen dreien, hätte dieser Plan den Vorzug, den Autoverkehr an diesen neuralgischen Orten unsichtbar zu machen.

Der Präsident der Republik — sehr engagiert in dieser Frage — hat sich noch nicht geäußert. Dem Vernehmen nach soll er aber mit dem Projekt der Stadtpräfektur liebäugeln. Der Plan der A. P. UR. wird auf 350 Millionen Franc geschätzt, die Variante Nummer zwei auf 240 Millionen. Der Kostenvoran-schlag für Nummer eins ist noch unbekannt.

Egal, wofür man sich entscheidet: Die Physiognomie von Paris wird sich in den nächsten vier Jahren grundlegend verändern. Noch ist es zu früh, Kassandra-Rufe auszustoßen. Und doch schwingt bei den beruhigenden Worten der Städteplaner ein deutliches Unbehagen mit. Werden die Erben des genialen Haussman das Gespür für die Grenzen des Mögliehen und des Schädlichen haben?

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