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Wirtschaft im Chaos

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A merikas Ökonomie ist nicht gerade, in bester Verfassung, aber trotzdem diskutieren und pla- nen Industrien und Industrielle ihre Strategien und Investments in den osteuropäischen Ländern.

„Die Möglichkeiten, die sich dort ergeben", urteilt beispielsweise David Haie von Kemper Financial Services, „sind einfach beispiellos", und er verweist auf folgendes Fak- tum: In den siebziger Jahren haben die großen Banken der westlichen Welt Lateinamerika Kredite in Höhe von mehr als 400 Milliarden Dollar, den damaligen Ostblock- Staaten zudem etwa 100 Milliar- den Dollar zur Verfügung gestellt.

Weitaus größere Summen kom- men jetzt, in den neunziger Jahren, auf die westlichen Kreditgeber zu. Haie ist der Ansicht, daß allein im DDR-Gebiet ein Bedarf von 600 Milliarden Dollar besteht, und daß Ungarn, Polen und die CSFR meh- rere weitere hundert Milliarden Dollar benötigen.

In Wall Street gehen die Exper- ten derzeit davon aus, daß der Löwenanteil der in Ost-Europa, vor allem auf dem DDR-Territorium, benötigten Kapitalmenge von West- Europa und Japan, vor allem aber der Bundesrepublik, aufgebracht werden wird. „Wir werden aber trotzdem stark gefragt sein", ur- teilt in Wall Street ein Sprecher der Citibank, „denn der Wiederaufbau einer völlig zerrütteten Wirtschaft in vielen Ländern setzt auch das US-Engagement voraus".

Keineswegs nur die ehemaligen Satelliten Moskaus spielen bei den entsprechenden US-Planungen eine Rolle - auch die Sowjetunion selbsc rückt immer mehr in den finanziel- len Mittelpunkt der Wall-Street- Überlegungen. Dabei wird das jüng- ste Finanz-Verhalten der Sowjet- union zunehmend mit Staunen und wachsender Skepsis registriert:

Bisher galt Moskau als ausge- zeichneter Zahler, der seinen Ver- pflichtungen binnen kürzester Zeit, immer pünktlich, stets unange- mahnt nachkam. Das hat sich plötz- lich geändert: Immer häufiger, so wird auch in amerikanischen Re- gierungskreisen bestätigt, versu- chen die Sowjets, Zahlungen auf- zuschieben, Fristen zu gewinnen. Sie schieben in solchen Fällen immer den gleichen Grund vor - heißt es übereinstimmend in Wa- shington, New York und auch euro- päischen Hauptstädten, darunter Rom: Zahlungsverzögerungen, so die konstante sowjetische Be- hauptung oder Ausflucht, seien die Folge von fehlerhaft ausge- stellten und verspätet zugestellten Dokumenten.

Damit ist die hochwertige Kre- diteinschätzung, der sich die So- wjetunion bisher erfreute, nicht nur in Gefahr geraten, sondern insge- heim in Wall Street bereits in Frage gestellt. Dabei spielt auch diese Tatsache eine nicht zu unterschät- zende Rolle: In den letzten drei Jahren haben die Sowjets ihre Kreditaufnahmen um 67 Prozent gesteigert und die Auslandsver- schuldung auf inzwischen über 45 Milliarden Dollar anwachsen las- sen.

Diese Problematik der Sowjet- union, so wird in New York und Washington analysiert, ist „das Ergebnis des Chaos, das die Refor- men verursacht haben" - wurde die Situation in „Business Week" treff- lich umschrieben. Die wirtschaftli- che Entscheidungsgewalt- auch der Umgang mit dem Ausland - ist von der Zentrale in Moskau auf rund 11.000 örtliche Unternehmungen oder Organisationen übergegangen, die auf diesem Gebiet keinerlei Erfahrung haben, aber plötzlich auch selbständig Außenhandel und Devisengeschäfte betreiben dürfen, ja müssen. „Die sind damit einfach total überfordert", meint Richard Dean, der als US-Anwalt in Mos- kau die Interessen amerikanischer Firmen vertritt.

Die Sowjetunion, so eine weitere Analyse in Wall Street, leidet an einem stetig steigenden Mangel an harten Währungen, an Devisen - deshalb konnte Exportchleb, auf den Handel mit Getreide speziali- siert, zu Beginn des Jahres schon die Rechnungen für die Einfuhr von fünf Millionen Tonnen Weizen, Sojabohnen und Sojamehl nicht rechtzeitig begleichen - Rechnun- gen von zusammen rund 200 Mil- lionen Dollar.

Nichts, so heißt es in New York, deutet darauf hin, daß sich diese Situation bald bessern werde. Eher ist bis zum kommenden Jahr, wenn die Sowjets ihre wichtigsten Roh- stoffe generell nur noch gegen Devisen abgeben wollen, das Ge- genteil der Fall: Die Sowjetproduk- tion an Rohstoffen, die auch harte Währung nach Moskau fließen läßt. ist im vergangenen Jahr drama- tisch zurückgegangen - bei Erdöl um drei, bei Kohle um sechs Pro- zent.

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