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Wirtschaftskrise in Belgien, ungelöste Minderheitenprobleme in Holland

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„Die Wirtschaftskrise ist so ärgerlich geworden, daß die Regierung Tindemans sich als eine Art sozial-ökonomisches Kriegskabinett betrachtet.” Mit diesen Worten hat Staatssekretär Mark Eyskens dieser Tage im flämischen Gent den Ernst der Lage in Belgien gekennzeichnet. Die Regierung strenge sich an, könne aber keine Wunder verrichten. Wer mit populären Vorschlägen aufwarte, sei entweder ein Idiot oder scheinheilig.

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„Die Wirtschaftskrise ist so ärgerlich geworden, daß die Regierung Tindemans sich als eine Art sozial-ökonomisches Kriegskabinett betrachtet.” Mit diesen Worten hat Staatssekretär Mark Eyskens dieser Tage im flämischen Gent den Ernst der Lage in Belgien gekennzeichnet. Die Regierung strenge sich an, könne aber keine Wunder verrichten. Wer mit populären Vorschlägen aufwarte, sei entweder ein Idiot oder scheinheilig.

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ABelgier breughelianisch: Es sei unrealistisch und unnötig, von ihnen zu verlangen, sie müßten plötzlich wie asketische Franziskaner leben, meinte Eyskens. Wohlstand sei kein erworbenes Recht, Wohlstand müsse verdient werden. Der Staatssekretär weiter: „Die Regierung kann daher den über 400 in Not geratenen flämischen Betrieben mit ihren 50.000 Arbeitnehmern nur dann wirkungsvoll helfen, wenn alle Belgier ihre Ansprüche mäßigen.”

Inzwischen bereitet sich die Regierung Tindemans auf die erste Konfrontation im neugewählten Parlament vor. Dem zwischen den Koalitionspartnern (Christdemokraten, Sozialisten, flämische Kulturpartei „Volksunie”, Brüsseler frankophone FDF) geschlossenen „Egmont-Pakt” steht das Egmont-Komitee” gegenüber - ein Zusammenschluß flämischer Nationalisten. Diese werfen der Regierung vor, sie habe die französischsprachigen Einwohner in den sieben Brüsseler Randgemeinden hinsichtlich bestimmter Rechte in der „personengebundenen” Materie allzu sehr bevorteilt. Der flämische Widerstand in Brüssel gegen die wallonisch französische Sprachherrschaft geht also vorläufig munter weiter.

Im Unterschied zu den Holländern, die schon vor der Regierungsbildung alles in festen Absprachen regeln wollen, haben die Belgier erst einmal eine Regierung gebildet, die sich an den großen gemeinsamen Linien orientiert. Gewiß stehen die Pläne und Maßnahmen der Regierung Tindemans im Licht der Kritik von vielen Seiten. So etwa die Pläne des Arbeitsministers Spitals, der zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit „Arbeitsdienst”- ähnliche Maßnahmen treffen will. Zur Überwindung der Schwierigkeiten in der luxemburgisch-belgischen Eisen- und Stahlindustrie (Rondage-Athus) haben die Regierungen beider Länder inzwischen Mithilfe von der Kommission der Europäischen Gemeinschaft erhalten.

In den Niederlanden erhielt der Sozialist Joop den Uyl zusammen mit dem Christdemokraten Vergina vom Staatsoberhaupt einen Vermittlerauftrag, nachdem der zweite Versuch eine Regierung zu bilden, gescheitert war. Nun muß zwischen den Koalitionspartnern (Sozialisten, Christdemokraten, Halblinks-Liberale) ein schwieriger Kompromiß über die Neufassung des Abtreibungsgesetzes erzielt werden, Die niederländische Bevölkerung hofft, daß nach Eröffnung des parlamentarischen Jahres und der Thronrede der Königin in der letzten Woche endlich eine Regierung gebildet werden kann. Dennoch ist die Zahl der Skeptiker in Den Haag immer noch größer als die der Optimisten. Schließlich hat die Regierungsbildung unter dem Druck des Unabhängigkeitsstrebens der Arubaner Separatisten ebenso wie unter der Last des ungelösten Molukkerproblems und der Uneinigkeit unter den zukünftigen Regierungsparteien gestanden.

Ebenfalls letzte Woche wurde in der nordholländischen Stadt Assen das Urteil gegen sieben südmolukkische Extremisten verkündet, die vor vier Monaten bei einem Überfall auf einen Zug in Assen und eine Schule in Bo- vensmilde über 100 Geiseln in ihre Gewalt brachten. Ein weiterer Südmo- lukker wurde der Beihilfe angeklagt. Der Staatsanwalt hatte die Höchststrafe für Freiheitsberaubung und unerlaubten Waffenbesitz von 10 Jahren Haft für die sieben Hauptangeklagten gefordert Das Gericht entschied sich für Gefängnisstrafen von sechs bis neun Jahren, der achte Molukker soll wegen Beihilfe für ein Jahr ins Gefängnis.

Die Aufhellung der politischen Hintergründe wird Aufgabe des neuen Parlaments und der neuen Regierung sein. Diese dringend erforderliche Debatte wird allerdings nicht vor Ende Oktober stattfinden können. Die Begleiterscheinungen zwischen Beweisaufnahme und U rteilsverkün- dung (Brandstiftungen, Schlägereien, Demonstrationen, ungewöhnlich starkes Polizeiaufgebot und Durchsuchungen der Molukkerwohnbezirke in Assen und Bovensmilde haben in der niederländischen Bevölkerung und den nun noch mehr isolierten Südmo- lukkern das Klima der Unzufriedenheit verstärkt.

In der rauhen Wirklichkeit des politischen Umfeldes kann das Urteil von Assen zu einem neuen Zündfunken werden, wenn es dem zur Zeit noch immer verwirrten Den Haag nicht gelingt, die ausgetretenen Pfade zur Regelung des Molukkerproblems zu verlassen und energische Schritte zur. schnellen Befriedung einzuleiten.

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