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Wirtschaftssupermacht China

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Während die Oststaaten mit einer schweren Wirtschaftskrise ringen, befindet sich China mit überdurchschnittlichen Wachstumsraten auf dem Weg zur drittgrößten Wirtschaftsmacht. Offen sind jedoch die Auswirkungen auf das repressive politische System.

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Während die Oststaaten mit einer schweren Wirtschaftskrise ringen, befindet sich China mit überdurchschnittlichen Wachstumsraten auf dem Weg zur drittgrößten Wirtschaftsmacht. Offen sind jedoch die Auswirkungen auf das repressive politische System.

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Die von Politbürokraten verwaltete Staatswirtschft als Hauptkomponente des sozialistischen Gesellschaftssystems hat nicht nur in der ehemaligen Sowjetunion und im äußeren Ring des Sowjetimperiums versagt. Auch in China wurde die Tatsache anerkannt, daß die Allmacht des Staates in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft unweigerlich zu einem Kollaps in der Wirtschaft führen müsse. Das Ende der kommunistischen Utopie ist besiegelt. Überall und für immer.

Wenn aber im ZK-Bericht für den 14. Parteikongreß (Oktober 1992) zu lesen ist, daß „mehr Plan oder mehr Markt nicht den Unterschied zwischen Sozialismus und Kommunismus ausmacht”, und wenn Ministerpräsident Li Peng die Abgeordneten des Volkskongresses aufgefordert hatte, „100 Jahre nicht zu schwanken und am geltenden politischen Regime festzuhalten”, so fällt dem Autor, der China mit einem Abstand von acht Jahren noch einmal besuchte, auf, daß die „unsichtbare Hand” des Marktes, das heißt, die durch kollektive Weisheit unzähliger Menschengenerationen zuwegegebrachten Steuerungsmechanismen das ineffiziente Kommandosystem früher verdrängen wird als man allgemein erwartet hatte.

Größte Agrarrevolution

Dennoch scheint der vom greisen Steuermann Deng-Xiaoping eingeschlagene Weg zur Marktwirtschaft erfolgversprechender zu sein als die Schock- und anderen Therapien in Osteuropa. Vor allem deshalb, weil dieser „inmitten des Wandels Ordnung bewahrt” (J. Schumpeter), und weil er die Wirtschaft vorwärts bringt und nicht rückwärts treibt.

Nach dem Abschluß des China-Besuches am 20. Dezember 1992 sagte Boris Jelzin: „Wir sollten zumindest einen Menschen nach China beordern, um seine Erfahrungen zu erlernen”. Jetzt sei es aber zu spät, ergänzte das Staatsoberhaupt. Arkadij Wolskij, der mächtige Chef des Industriellenverbandes, ist aber immer noch überzeugt, daß Chinas Reformpraxis als Vorbild für Rußland gelten könnte.

Die Reform wurde mit der größten Agrarrevolution der Weltgeschichte eingeleitet: Die 800 Millionen Bauern Chinas wurden vom erdrückenden Zwang der Volkskommunen befreit und haben den Boden in ewiger Pacht erhalten. Innerhalb kurzer Zeit ist die Getreideernte von 100 Millionen Tonnen auf beinahe 450 Millionen Tonnen gestiegen, und das Land ist von Hungersnöten befreit. Zwischen 1978 und 1990 haben sich die Bauerneinkommen verdreifacht.

In der Industrie wurde aber ein langsamer und evolutionärer Reformprozeß eingeleitet. Tausende kleine Schritte haben die traditionellen Steuerungsmethoden wesentlich verändert. Langsam werden die Preise liberalisiert: bei einer Hälfte des zwischenbetrieblichen Umsatzes werden diese vertragsmäßig zwischen Kontrahenten vereinbart und nur 15 Prozent der Güterpreise unterliegen der Staatskontrolle, für 35 Prozent wird die Obergrenze vom Staat festgelegt.

Die Entscheidungsbefugnisse werden sukzessive von der Makro- in die Mikroebene verlagert. Vor der Reform wurden 300 Produkte zentral geplant und zentral verteilt; derzeit aber nur 15 staatswichtige Güter. Der Privatsektor wächst unaufhaltsam: Private Kleinbetriebe beschäftigen bereits 25,5 Millionen Menschen. Zwischen 1980 und 1991 ist der Anteil der Staatsbetriebe an der Gesamtproduktion von 78 auf 53 Prozent zurückgegangen. Im Jahr 2000 soll dieser auf 27 Prozent verringert werden, der Anteil der Genossenschaften soll auf 48 Prozent und der des Privatsektors auf 25 Prozent ansteigen.

Die Behauptung, daß die Wende zur Marktwirtschaft größere Fortschritte in China zu verzeichnen habe als in Osteuropa, scheint nicht übertrieben zu sein. Während aber die in Ost- und Mitteleuropa eingeleitete Wende einen Produktionsrückgang um ein Drittel verursacht hatte, ist die Industrieproduktion Chinas im Jahre 1991 um 14,2 Prozent und das Bruttoinlandsprodukt um sieben Prozent gestiegen. 1992 ist die Wirtschaftsleistung um weitere 12,8 Prozent gewachsen.

Die Reform-länderOsteuro-pas kämpfen um die Uberwindung der schwersten Wirtschaftskrise in ihrer Geschichte. China dagegen kämpft gegen die Überhitzung der Konjunktur, welche im Vorjahr eine Inflationsrate von 20 Prozent bewirkt hatte. Diese ist aber noch immer nicht höher als die Abwertung des Rubels in einem einzigen Monat.

Vor dem Westen erscheint China nicht als Bittsteller. Das Auslandskapital fließt in Strömen. In einem Umfang, von dem andere Kreditempfänger nur träumen können.

Soft loans haben auch dem Großgeschäft Österreichs in der Höhe von acht Milliarden Schilling den Weg geebnet (siehe dazu FURCHE 11 und 15/1993). Die Konkurrenz um diesen riesigen Markt ist eben enorm groß.

In nur einigen Jahren wurden in China 85.000 Joint Ventures gegründet. Direktinvestitionen erreichen bereits 80 Milliarden Dollar, zwanzigmal soviel wie in Rußland. In den „vier kleinen Drachen” - Freihandelszonen an der Pazifikküste - ist die Marktwirtschaft bereits stärker als die Planwirtschaft.

Veränderte Machtstrukturen

Chinas große Wirtschaftsreform hat auch Schattenseiten: 36 Prozent der Staatsbetriebe arbeiten mit Verlusten, die zwischen 1988 und 1990 von 8,19 Milliarden Yuan auf 34,88 Milliarden Yuan gestiegen sind. Ein horrendes Ausmaß erreichten die unverkäuflichen Ladenhüter, umgerechnet 16 Milliarden Dollar. Vom rapiden Aufstieg profitiert vor allem der reiche Süden mit einer Einwohnerzahl von 200 bis 250 Millionen Menschen. Das riesige Hinterland bleibt noch immer mit einem Pro-Kopf-Einkommen von rund 3.000 Schilling pro Jahr äußerst rückständig.

Der Reformarchitekt Deng-Xiaoping möchte bis zur Jahrtausendwende das Pro-Kopf-Einkommen auf 12.000 Schilling anheben. Das Time-Magazin sagt das Aufsteigen Chinas zur Superwirtschaftsmacht des 21. Jahrhunderts voraus. Unbestritten ist die Prognose, daß die überdurchschnittlichen Zuwachsraten China bereits in absehbarer Zukunft zur drittgrößten Wirtschaftsmacht der Welt machen werden. Mit Sicherheit kann man aber auch voraussagen, daß die fortschreitende soziale Differenzierung - für die Yuppies ist ein Platz in einem Luxusrestaurant zu einem Preis von 300 Dollar nicht zu teuer -unweigerlich zu einer radikalen Veränderung der nun geltenden Machtstrukturen führen wird.

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