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Wissenschaft als Science-Fiction

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Sowohl die Menschen als auch ihre Umwelt sind in hohem Maße veränderlich und durch Änderung des einen kann sich auch das andere ändern. Im Laufe der bisherigen Menschheitsgeschichte erwarb der Mensch immer mehr technische Fähigkeiten, die es ihm gestatteten, seine Umwelt seinen Wünschen gemäß zu gestalten. Die neuesten Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung, im besonderen der Biochemie, ermöglichen es dem Menschen, seine eigene biologische Struktur umzuformen.

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Sowohl die Menschen als auch ihre Umwelt sind in hohem Maße veränderlich und durch Änderung des einen kann sich auch das andere ändern. Im Laufe der bisherigen Menschheitsgeschichte erwarb der Mensch immer mehr technische Fähigkeiten, die es ihm gestatteten, seine Umwelt seinen Wünschen gemäß zu gestalten. Die neuesten Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung, im besonderen der Biochemie, ermöglichen es dem Menschen, seine eigene biologische Struktur umzuformen.

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Eingriffe in die menschliche Natur, die vor 50 Jahren noch als utopische Spekulationen anmuten mußten, gehören heute fast zum Alltag oder sind technischer Verwirklichung wenigstens ziemlich nahegerückt. Man denke etwa an die durchgeführten Organverpflanzungen (Herz, Niere) oder die Einsetzung künstlicher Ersatzmechanismen

(Herzschrittmacher). Kontrolle von Körper, Geist und Verhalten sind durch Elektronik, Medikamente und

Kybernetik möglich geworden. In Amerika praktiziert eine ernst zu nehmende wissenschaftliche Gesellschaft, die American Cryonics Society, eine originelle Bestattungsmethode: sie friert tote Körper für eine erhoffte irdische Wiederauferstehung ein. Künstliche Befruchtung, Eingriffe vor der Geburt gehören fast schon zur medizinischen Routine. Die Änderung künftiger Generationen durch eugenische Maßnahmen und molekulare Manipulationen der Gene ist technisch vorstellbar geworden.

Eine kurze Ubersicht über For-schungsprojekte, an denen gearbeitet wird, liest sich wie ein biologischer Wunschkatalog: Ist Bildung durch Injektion möglich? Läßt sich ein Sortiment von Ersatzkörperteilen aufstellen? Wird ein größeres, leistungsfähigeres Gehirn gewünscht? Oder ein Heilmittel gegen das Altern? Unsterblichkeit in der Tiefkühltruhe? Elternlose Kinder? Körpergröße und Hautfarbe auf Bestellung? Die Fähigkeit, Sonnenlicht direkt in Energie umzusetzen, ohne Lebensmittel? Sieht man von dem etwas verwirrenden Charakter ab, der diesen wissenschaftlichen Sensationsmeldungen auf den ersten Blick anhaftet, so ergeben sich vor allem drei Aspekte menschlicher Existenz, die in der biologischen Zukunftsdiagnose eine besondere Rolle spielen: das Problem des Alterns, das Problem der Fortpflanzung und das Problem einer Eugenik der menschlichen Rasse.

Die Schlüsselstellung in diesen drei Problemkreisen nimmt eine Entdeckung ein, die der Molekularbiologie in den letzten Jahren gelang, nämlich die von Cricks und Watson beschriebene Doppelwendelstruktur des DNS-Moleküls (DNS - Desoxyribonukleinsäure). Die Anordnung der Bausteine des DNS-Moleküls beschreibt den Vererbungs- und Reproduktionsmechanismus sowohl der einzelnen Zelle als auch des ganzen Organismus. Zur Weitergabe von Information benutzt die DNS einfacher aufgebaute Ribonukleinsäuren (RNS), die aus einem Code aus vier „Buchstaben“ bzw. vier chemischen Verbindungen bestehen. Mit Hilfe dieses Codes wird für jede der 20 Aminosäuren, die zur Eiweißsynthese benötigt werden, ein RNS-Codewort gebildet, welches die Herstellung eines bestimmten Proteins diktiert. Durch kombinatorische Methoden ist es bereits gelungen, einige dieser Codewörter chemisch zu beschreiben. Wenn es den Molekularbiologen wirklich gelingt — und daran besteht kein Zweifel —, auch die im DNS-Molekül verschlüsselt enthaltenen genetischen Daten lük-kendos zu entziffern, dann wäre es nur logisch, daß es ihnen auch gelingt, die Anweisungen in diesem Code abzuwandeln oder zu verbessern oder gar eigene genetische Instruktionen herauszugeben.

In der Altersforschung oder Geriatrie hat sich die Wissenschaft bis heute darauf beschränkt, den Tod hinauszuschieben, das Leben zu verlängern, weniger hingegen damit, die gewonnenen Jahre so lebenswert wie möglich zu gestalten. In Zukunft wird es darum gehen, den Prozeß des Alterns als solchen hinauszuschieben.

Von den 9 oder 10 Billionen Zellen, aus denen der menschliche Körper besteht, haben einige die Fähigkeit, sich zu ersetzen, wie etwa die Zellen des Muskelgewebes, andere, wie Nerven oder Herzmuskeln, verfügen leider nicht über diese Fähigkeit. Das Altern stellt sich also zuerst einmal als der Verlust unersetzbarer Zellen dar. Weiter scheinen die Zellen mit zunehmendem Alter ihre Reproduktionsfähigkeit zu verlieren, sie ermüden sozusagen und werden zu Bindegewebe. Außerdem tritt mit zunehmendem Alter eine Schädigung oder Zerstörung des genetischen Materials selbst, der spezifischen DNS-Struktur, auf, das Instruktionsprogramm wird verwaschen und überträgt sich mit Fehlern und Irrtümern. In diesen unerfreulichen Prozeß könnte die Wissenschaft etwa folgendermaßen eingreifen: es wäre möglich, spezielle Viren zu züchten, welche aus vom Menschen perfekt kopierten DNS-Molekülen bestehen. Viren sind für sich allein nicht lebensfähig, sie müssen dazu den Zellkern eines lebenden Organismus okkupieren. Durch Injektionen solcher Viren könnten die nachlassenden Fähigkeiten der Zellen erneuert werden. Eine andere Möglichkeit bei Altersschäden der Nukleinsäuren in der Zelle wäre die tiefgekühlte Aufbewahrung von Gewebeproben des jungen Menschen — man hätte dann immer intaktes genetisches Material zur Hand, wenn es gebraucht wird. Aus bisher nicht genau geklärten Gründen erweisen sich auch Medikamente gegen radioaktive Strahlungsschäden wirksam gegen das Altern.

Vor allem aber wird durch die Ergebnisse der Zellforschung der Fortpflanzungsmechanismus in einen ganz neues Kontext gestellt. Die Technik der künstlichen Befruchtung etwa wird heute schon vollkommen beherrscht, 150.000 heute lebende Amerikaner sind auf diese Weise zur Welt gekommen. Bei Tieren, insbesondere bei Rindern, ist die künstliche Befruchtung überhaupt zur Regel geworden. Sowohl Eizellen als auch Sperma können tiefgekühlt aufbewahrt werden. Daraus ergeben sich zum Beispiel folgende Möglichkeiten: Frauen können sich den Vater des Kindes beliebig aussuchen, selbst

Sperma von Toten kann zur Zeugung verwendet werden. Befruchtete Eizellen können in die Gebärmutter einer anderen Frau eingesetzt werden und selbst unfruchtbaren Frauen zu Kindern verhelfen. Bei Kühen wird bereits folgendes Verfahren angewendet: durch spezielle Hormongaben erreicht man die vermehrte Abgabe von Eizellen (z. B. 100), Superovulation genannt. Diese werden dann künstlich befruchtet und anderen Kühen eingesetzt. Man kann auch die befruchteten Rindereizellen vorübergehend in die Gebärmutter eines Kaninchens einsetzen und auf diese Weise ganze Rinder- oder

Schafherden platzsparend über den Atlantik transportieren. Für Weltraumfahrten könnten so ganze Tierpopulationen transportiert und auf fremden Planeten großgezogen werden. Die künstliche Befruchtung birgt aber noch ganz andere Möglichkeiten: die Schwangerschaft könnte sozusagen „abgeschafft“ werden, Embryonen könnten sozusagen in der Retorte großgezogen werden. Damit wäre — rein theoretisch — leichter zu erkennen und zu behandeln, alle Arten von Eingriffen könnten vorgenommen werden; etwa ließe sich die Zahl der Gehirnzellen verdoppeln. Das Gehirn entsteht durch 33fache Teilung einer einzelnen Zelle — würde man die Zelle instruieren, sich 34mal zu teilen, verdoppelte sich die menschliche Gehirnmenge.

Die Reproduktion der menschlichen Rasse könnte aber noch auf ganz andere Weise vor sich gehen. In einem ausgewachsenen, reifen Organismus besitzt nämlich jede Zelle — gleichgültig, wie verschieden in Form und Funktion sie von anderen Körperzellen sein mag — immer noch alle genetischen Daten, die sie von der ersten befruchteten Eizelle erhält. Die meisten dieser Daten sind allerdings für dauernd „maskiert“, chemisch abgedeckt und unwirksam gemacht, da sie der Körper nicht mehr benötigt. Durch eine geschickte Gegenchemie könnte eine Demaskie-rung bewirkt werden. Aus solchen Gedanken entstand die Idee, Menschen in Gewebekultur zu züchten. Das würde theoretisch ermöglichen, so viele identische Individuen zu schaffen, wie gewünscht wären. Diese Technik ist bei Pflanzen bereits gelöst — im Laboratorium des amerikanischen Biologen Shephard wurden Hunderte von Möhren- und Tabakpflanzen aus einer einzigen Zelle in der Retorte gezüchtet. So könnte ein lebendes Geschöpf in Hunderten oder Tausenden von Kopien reproduziert werden, es entständen dann z. B. 100 identische Mehrlinge.

Durch „genetische Chirurgie“ können neue Pflanzen, neue Nahrungsmittel, neue Arten von Geschöpfen geschaffen werden. Der französische Biologe Rostand sah eine Zeit voraus, in der jedes Kind eine Standard-DNS erhielte, das die am meisten erwünschten körperlichen und geistigen Eigenschaften verleihen würde. Solche Kinder wären nicht die Nachkommen bestimmter Eltern, sondern der ganzen Spezies Mensch.

Dies sind einige Beispiele für die Macht, die Fähigkeit, an die von den Forschern gedacht wird, wenn sie davon sprechen, daß der Mensch seine eigene Evolution bestimmen wird. Natürlich ist dabei an eine Höherentwicklung, eine Verbesserung des Menschen gedacht. Wer wollte etwas daran auszusetzen finden? Was wäre dagegen einzuwenden, die Eigenschaften oder Fähigkeiten des Menschen zu verbessern, seine guten zu verstärken, seine schlechten auszuschalten? Es bleibt freilich das Problem, daß „gut“ und „schlecht“ Wörter sind, die sich leichter sagen als objektiv anwenden lassen.

Die moralische Seite des Problems ist allerdings noch kaum durchdacht. Oder öffnen nicht diese Perspektiven ganz neue Chancen für die „klassische“ Philosophie?

Während also der Mensch mit seiner eigenen Höherentwicklung beschäftigt ist, was tut unterdessen die Konkurrenz? Konkurrenz? Allerdings. Damit sind die Computer gemeint, die wir auch Elektronengehirne zu nennen belieben. Wenn diese künstlichen Gehirne weit genug entwickelt sind, warum sollten sie sich nicht selbständig machen? Wissenschaftler und Ingenteure, die in den großen Konzernen für Computerherstellung an Elektronenrechnern arbeiten, werden niemals müde, die Grenzen aufzuzeigen, die diesen Erzeugnissen gesetzt sind. Gewiß, hört man dann, Computer vollbringen unglaubliche Leistungen. Doch können sie nur das tun, was der Mensch in sie hineinprogrammiert. Zu selbständigem Denken sind sie nicht fähig und werden sie nicht fähig sein, versichert man uns ständig. Wörter wie „Gedächtnis“ und „Lernen“, auf Computer angewendet, seien unangebrachte Analogien, und solche für menschliches Tun geprägten Begriffe sollten auf dem Gebiet der Computertechnik beseitigt werden. Was Computer vollbringen, ist eine rein mechanische und keine schöpferische Tätigkeit. Und so weiter!

Aber all diese negativen Prophezeiungen über künftige Fähigkeiten von Computern sind voreilig. Das Zeitalter der Computer hat kaum begonnen und schon haben ihre Fähigkeiten die anfänglichen Erwartungen bei weitem übertroffen. Warum dann diese Eile, Grenzen dieser Fähigkeit zu nennen, wenn diese Grenzen noch gar nicht bekannt sein können? Viele Wissenschaftler gestehen ganz offen ein, daß sie nicht einzusehen vermögen, warum hochentwickelte Computer nicht zu einem richtigen Lernen durch Erfahrung imstande sein sollten und ebenso zu unabhängigem Denken. Man wird sie einmal ganz zutreffend als elektronische Gehirne bezeichnen können. Solche Computer können aus immer raffinierteren und immer weiter miniaturisierten Elementen aufgebaut sein. Eines Tages wird man sie vielleicht sogar aus organischer Substanz herstellen. Der amerikanische Wissenschaftler Ken-neth Boulding meinte, in der Retorte am Leben erhaltene Gehirnzellen könnten ein hervorragendes Material für die Computer der Zukunft sein. Noch leistungsfähiger wäre organisches Material, das synthetisch im Laboratorium hergestellt wird.

Wenn einmal Computerprogramme mit einer echten Möglichkeit der

Selbstverbesserung entwickelt sind, wird ein schneller Evolutionsprozeß einsetzen. Wenn die Maschine sich selbst und ihr Modell verbessert, werden wir alle die Phänomene beobachten können, die mit den Begriffen wie „Bewußtsein“, „Intuition“ und „Intelligenz“ verbunden sind. Es läßt sich schwer sagen, wie nahe wir dieser Schwelle sind, aber sobald sie einmal überschritten ist, wird die Welt nicht mehr die gleiche sein. Man kann daran zweifeln, ob Maschinen jemals intelligent sein werden. Es ist jedoch unvernünftig, zu glauben, Maschinen könnten fast so intelligent werden, wie wir es sind (etwa beim Schachspiel) und dann aufhören, oder anzunehmen, wir würden immer in der Lage sein, es hinsichtlich Witz und Weisheit mit ihnen aufzunehmen. Ob wir eine gewisse Kontrolle über die Maschinen behalten könnten, angenommen, wir wünschten dies, oder ob wir es nicht könnten, auf jeden Fall würde sich der Charakter unseres Tuns und Strebens völlig ändern durch die Anwesenheit intellektuell überlegener Intelligenz auf unserer Erde.

Mit Hilfe einer biologisch-technischen Zukunftsforschung können wir unsere Wahl treffen — keine genaue Wahl, da der Vorstellungskraft und der Prognose Grenzen gesetzt sind, aber eine ungefähre Wahl, ausreichend, um die allgemeine Richtung unserer zukünftigen Entwicklung festzulegen. Wenn wir uns entschieden haben, würde unsere Aufgabe darin bestehen, zu überlegen, wie wir von der Gegenwart in die Zukunft gelangen können. Wenn sich uns neue Möglichkeiten abzeichnen, sollten wir sie akzeptieren und willkommen heißen, aber nicht zulassen, daß sich unsere Vorsicht in Furcht verwandelt. Wir müssen uns selbst vertrauen, die neuen Kräfte zu unserem Besten zu verwenden und Möglichkeiten zu finden, das Üble abzuwenden — vielleicht dadurch, daß wir unsere Möglichkeiten der Kontrolle für den letzteren Zweck verwenden. Wir müssen, um einen vertrauten Begriff aus unserem Alltag zu benutzen, eine „Qualitätskontrolle“ für unsere Zukunft einrichten. Wehn wir unsere Gegenwart betrachten, bemerken wir nur wenig, was zu' einer optimistischen Einstellung verleiten könnte. Wir finden es schwer, Arthur Koestler unsere Zustimmung zu versagen, wenn er „einen Zug von Wahnsinn, der die Geschichte unserer Art begleitete“, feststellt, daß „das dem Menschen Angeborene, zwar überlegen dem jeder anderen lebenden Art, dennoch einen eigentümlichen Irrtum oder Mangel enthält, der ihn auf den Weg zur Selbstzerstörung führt.“

Ein großer Teil der Angst in einer Welt, in der der Mensch in einer Symbiose mit der Bombe leben muß, stammt von einem Mangel an Zuversicht in eine lebenswerte Zukunft. Es hat deshalb fast nur eine theoretische Bedeutung, wenn wir uns fragen, ob wir unsere Gesellschaft kontrollieren sollten oder nicht. Wir tun es nämlich schon jetzt, wenn auch schlecht.

Die Zeit ist reif, in der sich allerdings nicht nur die Natur-, sondern auch die Geisteswissenschaften der Probleme stärker annehmen müssen. Die Involvierung der Probleme mit Fragen von weltanschaulicher Brisanz ist offensichtlich: was auch die Beschäftigung der Theologie herausfordert.

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