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Wladzio, Ernst und ich

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Es waren einige Jahre nach Kriegsende vergangen; die Nationen der Bukowina hatten sich wieder ein wenig auf sich selbst besinnen können, und wenn es auch eine „herrschende” gab, so wirkte sich das weiter nicht drük-kend aus. Man lebte und ließ leben. Und man lebte gut in jenen Tagen, in denen noch kein Satan die Unduldsamkeit eingeimpft hatte und keiner um seiner Sprache oder Rasse willen minderwertig war.

Wladzio war Ukrainer, Ernst Jude und ich jene österreichische Mischung, die aus Verschiedenheiten eine Einheit bildete.

Doch wie dem auch sei — Wladzio, Ernst und ich verstanden uns als Freunde, und so wie uns nationale Unterschiede nicht zu stören vermochten, fielen auch die Unterschiede des Alters nicht ins Gewicht, die nach Zehnern gemessen werden konnten.

Und Wladzio war Senior.

Es war der zweite Weihnachtsfeiertag eines heute schon reichlich vergangenen Jahres. Der Schnee lag weich und tief und natürlich auch weiß, was der Ordnung halber erwähnt sei. Und weil solches wahrhaft verlockend und ein Tag im Freien einem unter Verwandten entschieden vorzuziehen war, hatten wir uns aufgemacht, unsere Stunden unfern der Stadt und doch von ihrer Enge gelöst auf den Hängen des waldumsäumten Tzetzina zu verbringen, der mit seiner krönenden Ruine in die Vergangenheit wies, mit seiner unberührten Winterschönheit aber herrlich die Gegenwart bestätigte.

Die Schatten wurden blauer und länger. Der Horizont versuchte sich in verschiedenen Tinten und kam dann doch zur Uberzeugung, daß ihn Gold und Orange am besten kleideten. Von Osten her wehte ein scharfer Wind, der die Heimkehr ratsam erscheinen ließ, und weil nun auch der Tag schneller verblaßte und in den Abend einging, war es Zeit, höchste Zeit sogar, weshalb wir beschlossen, den kürzesten Weg über das der Stadt vorgelagerte Dorf zu wählen, das zwischen Bäumen und auf Steilabfahrten leicht zu gewinnen war.

Los also! Wladzio voran, Ernst dicht auf und ich in einem gewissen Abstand, der weniger meinem Respekt als vielmehr dem Umstand zuzuschreiben war, daß ich mehrmals mit der Nase Schneepflug gespielt hatte und so an Elan einigermaßen reduziert wurde.

Wir glitten langsam dahin, und da geschah es, daß wir direkt auf ein Haus zufuhren — rechtwinkelig bog hier die Straße ab —, das am Beginn des schwäbischen Dorfteiles stand und auf uns zu warten schien. Und hier begegneten wir unserem Erlebnis, dem unvergeßlichen, darin sich Feierlichkeit und Humor die Waage hielten.

Zwei der Fenster waren hell erleuchtet, und in dem einen, das wie ein Blinkfeuer winkte, stand ein brennender Christbaum. Kein protziger natürlich, aber doch eine Weihnachtstanne, die eineinhalb Dutzend Kerzlein aufgesteckt hatte, deren Schein sich in den Glaskugeln spiegelte. Es war ein festlicher Anblick für uns, und wir machten wie auf ein Zeichen vor dem Gartenzaun halt.

„Wunderschön! Diese Stille, das fast schlafende Dorf und dazu der Christbaum!”

„Und wir die Heiligen Drei Könige davor!”

Ich weiß nicht mehr, wer von uns diesen Vergleich gewagt hatte, weiß nur, daß Ernst die schwarze Schneehaube ganz übers Gesicht zog, um so den dunklen König spielen zu können, womit unser seltsames Unterfangen begann, denn nun sagte einer von uns:

„Los, singen wir!” „Aber was?”

„Ein Weihnachtslied natürlich - .Stille Nacht' vielleicht oder .Ihr Kinderlein, kommet'. Das wäre dem Anlaß gerecht.” Ja, gerecht und passend wäre es schon gewesen und sicher auch der Stimmung gemäß, hätte es nicht einen Haken gegeben: Wladzios Gehör!

Der Ärmste war verzweifelt. „Und dabei liebe ich die Musik so sehr!”

„Gott erhalte dir die Gewohnheit”, warf ich ein - da faßte er mich an der Bluse, so fest, daß ein Knopf sich auf und davon machte. „Ja, ,Gott erhalte' kann ich wirklich!”

„He? Was kannst du?” Ernst schien schwerhörig geworden zu sein.

„Die Volkshymne, ausgezeichnet sogar, deutsch und ukrainisch! Und nicht ein bisserl falsch!”

Wir waren perplex. Haydn als Krippenlied - und das in einem Lande, in dem nur noch „Traiasca regele” galt. Nicht auszudenken. Aber sollten wir kleinlich sein? Ausgestorben die Gegend, Wind als Begleitung - durften wir Wladzio die Freude verderben, die einzige Melodie, die ihm richtig geläufig war, von sich zu geben? Und war es nicht gottgefällig, in dieser Stunde und unter frühen Sternen und angesichts des Weihnachtsbaumes zu singen, zu rühmen? Würde Gott da nach dem Text fragen?

„Ta-ta-ta-” gab ich den Ton an und hob den Skistock. Und da ich ihn sinken ließ, tönte es mit beträchtlicher Lautstärke, und Wort und Klang des unvergessenen „Gott erhalte” durchflogen die verschneiten Bäume, streiften die Dächer und verbanden sich mit den Rauchschnörkeln, die dem Schornstein entstiegen.

Wir waren irgendwo bei den „Lorbeerreisern” angelangt, da tat sich eines der erhellten Fenster auf, und drei Köpfe ließen sich in schwachem Umriß sehen.

Aber nun waren wir nicht mehr zu halten, und alle Vorsicht wiesen wir von uns. Jetzt war die Hymne begonnen worden, so mochte sie auch ausklingen, ob es den Hausbewohnern paßte oder nicht. Wir schmetterten die nächste Strophe und die letzte, da öffnete sich das Gartentürl, und ein etwa zwölfjähriges Mäderl, das Kopftuch lose umgeschlungen, trat hervor.

„Vater schickt das”, sagte die Kleine und hielt uns einen Teller hin — Äpfel, Nüsse, Zuckerkringel und Lebkuchen. Wir griffen zu und dankten. Das Mädchen verschwand, der Christbaum funkelte. Und wie wir nun die Spitzen unserer Skier wendeten zu weiterer Fahrt, sahen wir einen Mann stehen, der die Rechte salutierend am Mützenrand hatte. Metallene Knöpfe schimmerten am Rock, Gold blitzte, matt glänzte das Leder der Pistolentasche. Ein Polizist war's, der die Hand langsam vom Schirm der Mütze nahm.

„Na also”, sagte Wladzio. „Die hohe Obrigkeit. Jetzt wird wohl geamtshandelt.”

„Vielleicht nur gehandelt”, flüsterte ich und dachte an den Segen des heiligen Bakschisch, der ein Wundertäter war.

Weder noch. Der Polizist trat näher und grüßte. Er schien Wladzio zu kennen, dessen ragende Persönlichkeit landaus, landein ein Begriff war. Und dann meinte der Mann des Gesetzes — und in seiner Stimme war etwas wie Ergriffenheit: „Frumos ati cäntat - sehen gesungen - sehr sehen!”

Wir waren baff und fassungslos. Der hatte sicher keine Ahnung, was wir gesungen hatten. Vorsichtig erkundigte sich Wladzio: „Kennen Sie das Lied?” „Cum nu - wie nicht? War gewesen Einundvierziger — Silberne große, da, da!” Ein abgrundtiefer Seufzer entrang sich der Polizistenbrust, „Gott erhalte - sehr sehen — Francisc Iosif Kaiser!”

Wir setzten den Mann keinen Zweifeln und Gewissensqualen aus. Mit herzlichem Händedruck wurde unser Einverständnis bekräftigt - Deutscher, Jude, Ukrainer und Rumäne. Bakschisch wollte er nicht nehmen, weil wir ihm „gemacht so große Freide”!

Stumm fuhren wir das letzte Stück.

„Na, war es wirklich notwendig, das alte Österreich zu zerschlagen?” meinte Wladzio nach einer Weile, und etwas würgte ihn im Hals.

Aber er behauptete, es sei ein Stück von dem Apfel, und hatte noch nicht einmal in die rotwangige Frucht gebissen.

Aus „Damals in Czernowitz und rundum”, Carinthia Verlag, Klagenfurt, 1984.

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