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Wo blieb Nikitas Szene mit Schuh ?

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Der Film kann helfen, Ereignisse zu rekonstruieren, aber er kann auch gestellter Wirklichkeit eine trügerische und gefährliche Pseudo-Authentizität verschaffen.

Uber die Reden Ciceros oder Savonarolas existieren nur schriftliche Zeugnisse. Im Zeitalter des Films können wir die von Hitler und Goebbels noch hautnah miterleben.

Für den Zeitgeschichtler ist der Film eine wichtige Ergänzung seiner Forschungen. Der Amateurfilm von der Ermordung John F. Kennedys zum Beispiel war von großer Wichtigkeit für die Rekonstruktion des Ereignisses. Nach dem Absturz des Space-Shuttle „Challenger“ konnten die Kälteschäden an den Hilfsraketen als Ursache für die Katastrophe erst anhand von Filmaufnahmen verifiziert werden. „Verwendet der Historiker Filme für seine Arbeit, darf er allerdings nie die zahlreichen Manipulationsmöglichkeiten vergessen“, warnt der Zeitgeschichtler Gerhard Jagschitz.

Erinnert man sich beispielsweise an die Rede von Goebbels im Berliner Sportpalast, als er fragte: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ und an die offenbar begeisterte Antwort der Zuhörer: „Ja!“, tauchen doch Fragen auf. Viele Historiker haben dieses „Ja!“ ungefragt als echt hingenommen und nicht untersucht, wer die Leute, die dort waren, ausgesucht hatte, oder was mit denen geschehen-wäre, die mit Nein geantwortet hätten. Diese Rede ist einerseits ein Beispiel für die Manipulation der Versammlung durch Goebbels und andererseits für die Manipulation der späteren Zuseher, selbst vieler Historiker, durch die damalige deutsche Wochenschau.

Bewußte Manipulation durch den Hersteller ist genauso möglich wie Fehlinterpretation durch den Betrachter. Die Geschichtswissenschaft hat auch noch kein quellenkundliches Instrumentarium entwickelt.

Seit knapp 20 Jahren verwenden Historiker den Film als zusätzliche Quelle. Ende der sechziger Jahre waren deutsche Historiker die ersten. Ihrem Beispiel folgte 1970 der Ordinarius für Zeitgeschichte Ludwig Jedlicka in Wien. Nach einer Pause begann Gerhard Jagschitz 1978 mit der Abhaltung regelmäßiger Lehrveranstaltungen, die sich mit audiovisuellen Medien beschäftigen. Heute ist der Film bei den Zeitgeschichtlern als Hilfsmittel anerkannt.

Fachgerechte Archivierung ist wichtig, in erster Linie das Umkopieren der alten Nitrofilme, die bei längerer Lagerung zur Selbstentzündung neigen. Dazu kommen Beschriftung und Kommentierung der Füme - bei Fragmenten, oder wenn ein Vorspann fehlt, meist schwierig. „Es fehlen leider auch das nötige Geld und Personal für die Archive“, klagt Jagschitz.

In Österreich gibt es zwei große Archive: das österreichische Filmmuseum in der Albertina in Wien und das österreichische Filmarchiv in Laxenburg. Hier wird der Großteil der in Österreich erhaltenen Filme aufbewahrt. Beispielsweise die beiden ersten EinMinuten-Filme, die von Franzosen über Österreich 1896 gedreht wurden: „Entree du Cinomato-graphe a Vienne“ und „Le Ring“. Der erste österreichische Spielfilm „Von Stufe zu Stufe“ wurde 1908 gedreht, der erste Dokumentarfilm ein Jahr später.

Aus den Jahren bis 1938 sind zehn bis 20 Prozent der Filme noch erhalten. Darunter Aufnahmen von Kaiser Franz Josef und Kaiser Karl. Auch von der Ausrufung der Republik am 12. November 1918 gibt es ein Filmdokument. Es ist ein Stummfilm, der bruchstückhaft erhalten ist. Die Bewegungen sind unregelmäßig, da er mit Handkamera und Handkurbel aufgenommen wurde. Am Beginn sind marschierende Menschen zu erkennen, dann das Parlament, dann eine Menschenmenge. Aufgenommen wurde auf der Ringstraße, vor dem Parlament und auf dem Schwarzenbergplatz. Ohne zusätzliches Wissen könnte der Betrachter schwer draufkommen, daß es sich hier um die Ausrufung der Republik handelt. Eindeutig zu identifizieren ist nur eine Veranstaltung mit vielen Menschen im Herbst oder Winter in Wien. Der Film kann dem Historiker aber als Ergänzung zu anderen Quellen dienen.

Auch vom Justizpalastbrand 1927 in Wien gibt es ein Filmdokument: „Die Schreckenstage von Wien“. Zu sehen ist der brennende Justizpalast, sind auseinanderlaufende Menschen, auf die offenbar die Polizei schießt. Die Polizisten selbst sieht man nicht. Das Auseinanderlaufen könnte theoretisch andere Gründe haben.

Filmaufnahmen gibt es von einem Besuch des Bundespräsidenten Wilhelm Miklas in Kitzbühel 1930, vom Begräbnis von Ignaz Seipel, von Heimwehrveranstaltungen in Wiener Neustadt und Graz. Die erste Landung eines Zeppelins im Juli 1931 in Wien wurde bereits mit Ton gefilmt. Die anschließende Rede des Kapitäns Eckener ist eine eindeutige Propaganda für den Anschluß.

Mit dem Aufkommen der Tonfilme Ende der zwanziger Jahre wurde der Füm nun auch zum Lieferanten historischen Textmaterials. Reden oder Statements, die nicht schriftlich überliefert sind, können mit Hilfe des Films rekonstruiert werden. „Bürgermeister Seitz spricht“ nennt sich ein sozialdemokratischer Werbefilm aus dem Jahr 1930. Der Hintergrund ist schwarz, die Atmosphäre steril, Seitz wirkt etwas unbeholfen.

Der Nationalsozialismus bewertete die propagandistische Wirkung des Films sehr hoch und hinterließ ein ungeheures Filmmaterial. Die Beurteilung vieler dieser Filme ist nicht schwierig. Wir kennen die politischen Bedingungen, unter denen sie gedreht wurden, und die Absichten, die damit verfolgt wurden. Dasselbe gilt für die Propagandafilme politischer Parteien. Schwieriger wird es, wenn der Auftraggeber eines Films nicht bekannt ist.

In den Archiven lagern auch Filme, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren: Dokumentarfilme aus den Konzentrationslagern, aus den Ghettos zum Beispiel. Aufnahmen der Alliierten aus den befreiten KZs hingegen wurden sofort nach dem Krieg den Deutschen, oft sogar zwangsweise, gezeigt. Sie sind ein Beweismaterial, das zwar ein ernst zu nehmender Historiker nicht notwendig hat, das aber für die Information der österreichischen und deutschen Bevölkerung von großer Bedeutung war— und vielleicht wieder wird.

Die Behauptung, die Aufnahmen aus den Konzentrationslagern seien gestellt, darf keinesfalls auf eine Ebene mit der prinzipiellen kritischen Haltung des Historikers gegenüber jedem Film - wie überhaupt allem Quellenmaterial — gestellt werden. Als bei den Nürnberger Prozessen Bilder von Bulldozern, die Leichen in den KZ's wegschaffen, gezeigt wurden, gab es Angeklagte, die ihren Blick abwandten. Hinter angeblich kritischer Haltung gegenüber Quellen kann sich politische Absicht verbergen.

Für den Militärhistoriker sind jene Filme besonders interessant, die ursprünglich ausschließlich für müitärische Zwecke hergestellt waren. Etwa die der Zielkameras in Flugzeugen. Sie sind zugleich oft ein erschreckendes Dokument über die Grausamkeit des Krieges. Dokumentaraufnahmen können auch einen aufklärenden Effekt haben.

Der Film ist nicht nur Quelle für die zeitgeschichtliche Forschung, sondern auch zeitgeschichtliches Informationsmedium für das Publikum. Viele Ereignisse prägen sich dem Bewußtsein breiter Schichten in der Form ein, in der sie von Spielfilmen mit zeitgenössischem Inhalt nachgestellt wurden. Selbst die Erinnerung von Zeitgenossen wird oft von der Erinnerung an einen Film dieser Ereignisse überlagert. Gestellte Wirklichkeit gewinnt so auf gefährliche Weise Pseudo-Authentizität.

Gerhard Jagschitz warnt davor, dem „Mythos von der Objektivität des Films“ zu erliegen, alles Gezeigte für unveränderte Realität zu nehmen und zu vergessen, daß es sich immer um einen Ausschnitt der Wirklichkeit handelt. Auch bewußte Manipulation darf nie ausgeschlossen werden: Szenen können gestellt — oder herausgeschnitten worden sein.

Heute werden praktisch alle wichtigen Ereignisse gefümt. Trotzdem kann es vorkommen, daß manches Material aus den Archiven verschwindet. Ein Beispiel: Als die Fernsehserie „Österreich II“ zusammengestellt wurde, war ein ganz berühmtes Fümdokument nicht mehr aufzutreiben: der Wochenschau-Streifen, in dem Nikita Chruschtschow vor der UNO in New York plötzlich seinen Schuh auszieht und damit auf das Rednerpult schlägt.

Übrigens — später stellte sich heraus, daß Chruschtschow gar nicht seinen Schuh ausgezogen, sondern vorsorglich einen dritten Schuh mitgenommen hatte.

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