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Wo Christus einst das Kreuz trug

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Mancher römisch-katholische Pilger träumt davon, in Jerusalem den originalen Kreuzweg meditierend zu gehen. Bei der Verwirklichung seines Traumes wird er die Via Dolorosa tatsächlich als schmerzenreich erfahren, wenn er Andacht im üblichen Sinn sucht. Gerade heuer, da der jüdische und der ostkirchliche Ostertermin mit dem der Westkirche zusammenfallen, ist Jerusalem überfüllt, und in der Via Dolorosa drängen sich die Menschen: Ein Kreuzweg mit gestörter Andacht? Versteht man das Wort Andacht aber in seinem eigentlichen Sinn als „intensiv an etwas denken", dann gibt es auf diesem Kreuzweg genug Gelegenheit zur „An-dacht".

Die Straßen, auf denen heute der Kreuzweg in Jerusalem verläuft, sind keine Kultstätte, sondem zunächst einmal Hauptstraßen der arabischen Altstadt von Jerusalem. Die vielen Püger haben die Geschäftsleute veranlaßt, sich hier niederzulassen. Es sind arabische Christen ebenso wie Moslems, Armenier und Griechen, die ihre Waren zum Kauf anbieten. Sie laden zum Eintritt in ihr Geschäft ein und stören die Andacht, eine Andacht, die nicht erkennen will, daß diese Form des Kleinhandels ein wichtiger ökonomischer Faktor ist. Er sichert nicht zuletzt den Holzschnitzern in Bethlehem den Lebensunterhalt. Das sind zwar keine Gedanken, die zum Kreuzweg passen, aber durchaus der „Andacht" wert, ehe man gereizt auf diese Art der Werbung um Käufer reagiert.

Aus der Gegenwart schweifen auf diesem originalen Kreuzweg die Gedanken in die Geschichte zurück. So wie der Kreuzweg heute verläuft, verlief er bereits im 13. Jahrhundert, als die Franziskaner im Gefolge der Kreuzzüge diesen Kreuzweg errichteten und von Jerusalem aus sich der fromme Brauch auch in den Kirchen der lateinischen Christen verbreitete. An jedem Freitag um 15 Uhr gehen auch heute noch die Franziskaner mit den Pilgern diesen Kreuzweg, der durch die Via Dolorosa zur Grabeskirche führt. Von November bis Februar, den touristisch schwachen Monaten, kann der Weg fast beschaulich sein.

Die Bequemlichkeit der Andachtsuchenden hat zugenommen, seit vor etwa zwei Jahren ein neues Steinpflaster verlegt wurde, das verhindert, daß der in Andacht Versunkene strauchelt. Diese mit dem Namen Teddy Kol-leks verbundene Maßnahme, die auch von der arabischen Bevölkerung mitgetragen wurde, lädt zur An-dacht daran ein, wie schön es sein könnte, wenn ... !

Der Kreuzweg beginnt bei einer alten türkischen Kaserne, in deren Hof sich die I. Station befindet. Das 1838 neu errichtete Gebäude beherbergt heute eine Schule für arabische Kinder, das El-Omariye College. In der Antike stand an dieser Stelle die Burg Antonia, eine kleine Festung, von der aus die römischen Besatzer den Tempelplatz kontrollieren konnten.

Hier wird die Andacht nicht von Händlern, sondern sozusagen von den Historikern gestört. Es stellt sich nämlich die Frage, ob historisch gesehen der Kreuzweg hier begonnen hat oder am anderen Ende der Stadt beim heutigen Jaffa-Tor, wo in der Antike der Prokuratorenpalast lag, in dem auch Pilatus residierte. Von dort führte der Kreuzweg bergab zur Grabeskirche, das heißt nach Golgotha, und nicht von der Burg Antonia bergauf wie heute. Vieles spricht dafür, daß der historische Kreuzweg beim Jaffa-Tor begann. Jedenfalls war der Ecce-Homo-Bo-gen unweit der II. Station nicht Zeuge der Szene, wie Pilatus Jesus dem Volk zeigt. Er wurde erst als Bestandteil eines kleinen Forums in der Zeit von Kaiser Hadrian gebaut und bestand zur Zeit Jesu also noch nicht. Der mittelalterlichen Tradition nach hätte aber Pilatus hier Jesus verurteilt und ihn dann dem Volk gezeigt.

Zu diesem hadrianischen Forum gehört auch das Pflaster, das die Sionsschwestern in ihrem Kloster zeigen. Man deutet diesen mit großen Steinplatten belegten Boden, der sich heute in einem stillen, zur Andacht einladenden Raum befindet, als den Ort der Verspottung Jesu.

Verläßt man diesen Raum, um zur III. Station (Jesus fällt zum ersten Mal) zu gelangen, findet man sich wieder in dem Gewirr von Menschen, Lasttieren und Autos. Die III. Station befindet sich in unmittelbarer Nähe des österreichischen Hospizes, das im Jahre 1863 unter Kaiser Franz Joseph I. gegründet wurde und heute als arabisches Spital vermietet ist. Durch mehrere Jahrzehnte haben Vöcklabrucker Schulschwestern hier ausgeharrt. Niemand weiß, wann es die komplizierten politischen Verhältnisse zulassen werden, dieses Haus wieder seinem ursprünglichen Zweck zuzuführen, ohne bestehende Gegensätze zu verschärfen und im Gewirr der Fußangeln zu Fall zu kommen.

Ein altes Steinpflaster vor dem Eingang zu diesem an die Heimat erinnernden Gebäude zeigt, daß

hier schon zur Zeit von Kaiser Hadrian eine wichtige Straße führte. Dieser Kaiser hat Jerusalem baulich völlig umgestaltet und die Stadt in Aelia Capotolina umbenannt. Mit seinem Bauplan prägte er die Stadt so stark, daß sich der Straßenverlauf auch in der Zeit der oströmischen Kaiser (vom 4.-7. Jahrhundert n. Chr.), ja bis heute nicht mehr entscheidend änderte.

Die III. und die IV. Station liegen im Areal des armenisch-katholischen Klosters, eines alten türkischen Bades, Hammam es-Sultan genannt, das die Armenier 1856 gekauft und in ein Kloster umgewandelt haben. Es fällt auf, daß die künstlerische Gestaltung dieser Stationen neueren Datums ist. Wieder stört ein Stück Geschichte die Andacht: Ehemalige Angehörige der polnischen Armee, die im Zweiten Weltkrieg auf ihrem Weg über Persien nach Nordafrika auch das Heilige Land passierten und sich schließlich in der Schlacht bei Monte

Cassino schlugen, haben mit ihren Spenden die Gestaltung dieser beiden Stationen ermöglicht.

An der Ecke, wo die Via Dolorosa nach rechts abbiegt und aus dem Stadttal hinauf zur Grabeskirche führt, hegt die V. Station (Simon von Cyrene hilft Jesus das Kreuz tragen). Die Männer, die man hier stets vor einem Kaffeehaus sitzend ihre Wasserpfeifen rauchen sieht, haben schon manchem Touristen oder Püger mit lässiger Handbewegung den rechten Weg gewiesen. Allzuleicht folgt man nämlich dem ebenen Weg in der El-Wad-Straße und nicht der verhältnismäßig steil ansteigenden Via Dolorosa. Unter malerischen Bögen, die sich über die relativ schmale Straße spannen, kommt man zur VI. Station (Veronica reicht Jesus das Schweißtuch). An diese im Neuen Testament nicht verzeichnete Begebenheit erinnert ein in eine Hauswand eingelassener Säulenrest. Vielleicht stand hier im 6. Jahrhundert die Kirche der Heiligen Cosmas und Damian. Heute lädt ein stimmungsvolles Oratorium der Kleinen Schwestern, das unter dem Straßenniveau liegt, zur Andacht auch im üblichen Sinn ein.

Die VII. Station (Jesus fällt zum zweiten Mal) liegt am Kreuzungspunkt mit der antiken Hauptstraße der Stadt, dem sogenannten Cardo Maximus. Das südliche Ende dieser immer noch beeindrukkenden Anlage wurde von dem israelischen Archäologen Avigad freigelegt und ist im jüdischen Viertel der Altstadt seit etwa einem Jahr allgemein zugänglich. Wenn hier schon die Gedanken abschweifen, so sollte der Pilger doch nicht den Verlockungen der Archäologie folgend den bergauf führenden Kreuzweg verlassen. Das herrliche Gemüse, das in dem Laden bei der VII. Station angeboten wird, erinnert daran, daß dieses, auch „heilig" genannte Land von Milch und Honig fließt, so nur genug Wasser vorhanden ist wie in der Oase Jericho, woher Obst und Gemüse herkommen.

Die Andacht bei der VIII. Station (Jesus spricht zu den weinenden Frauen), die neben dem deutsch-lutherischen Hospiz im griechischen Charalambanos-Kloster liegt, wird durch einen Bäcker „gestört", der von der Straße aus sichtbar das Brot in seinen Ofen einschiebt. Die Menge der neugierigen Touristen beweist, wie fremd uns elementare menschliche Tätigkeiten geworden sind.

Die VIII. Station selbst hegt in der Kirche des griechisch-orthodoxen Charalambanos-Kon-vents. Zur IX. Station wäre der Weg nicht weit, müßte man nicht einen Umweg machen, der sich jedoch lohnt. Die IX. Station (Jesus fällt zum dritten Mal) erreicht man vom Khan es-Seit aus über fast 30 Stufen, die sozusagen auf das Dach der Grabeskirche führen. Dort befindet sich die Kirche des koptischen Bischofs. Auf dieser Terrasse, die in der Kreuzfahrerzeit zum Speisesaal der lateinischen Geistlichkeit gehörte, wohnen heute ganz ärmlich äthiopische Mönche.

Zur Straße zurückgekehrt, kommt man an mehreren Konditoreien vorbei, die auf großen runden Tassen orientalische Süßigkeiten feilbieten. Zu einem dieser Läden gehört ein Abstellraum für Mehlsäcke. Dort kann man mit Erlaubnis des Inhabers und um eine kleine Summe die Reste des Portals der von Kaiser Konstantin erbauten Grabeskirche sehen.

Die letzten fünf Stationen liegen schon in der Grabeskirche selbst. Die Architekten des Kaisers Konstantin haben im 4. Jahrhundert n. Chr. das Terrain, in dem Golgotha und das Heilige Grab liegen, mit einem Bauwerk umschlossen.

Hat man die Grabeskirche betreten, so wendet man sich nach rechts und erreicht über etliche Stufen einen Raum, in dem sich die X. Station (Jesus wird der Kleider beraubt), die XI. Station (Jesus wird ans Kreuz geschlagen), die XII. Station (Jesus stirbt am Kreuz) und die XIII. Station (Jesus wird vom Kreuz abgenommen) ganz eng nebeneinander befinden. An der Stelle der XII. Station findet man den von griechischen Mönchen gehüteten prächtigen Silberaltar, eine venezianische Arbeit aus dem 16. Jahrhundert. Er zeichnet den Platz aus, auf dem nach der Tradition das Kreuz Jesu stand.

Wenn der Menschenstrom etwas nachläßt, dann kann dieser Ort am Ende des Weges sogar zum Nachdenken und zur Besinnlichkeit einladen. Wer den Kreuzweg mit offenen Augen gegangen ist, den drängt es jetzt gewiß, über die Eindrücke sprudelnden Lebens und spannungsgeladener Wirklichkeit zu meditieren.

Uber Treppen hinunter am Salbungsstein vorbei gelangt man zur XIV. Station, dem Heiligen Grab. Für die Bauleute Konstantins war der Felsen des Grabes sozusagen ein Edelstein, dem sie mit dem Säulenrund der Rotunda eine edle Fassung gaben. Seit der Kalif Hakim am 18. Oktober 1009 den Auftrag zur Zerstörung des Heiligen Grabes gab, ist vom felsigen Naturstein nicht mehr viel erhalten. Der heutige Bau der Grabeskirche stammt aus der Kreuzfahrerzeit und hat die Apsis dort, wo Konstantins Basilika ihr Portal hatte. Es gehört zu den erfreulichen Aspekten der Gegenwart, daß die sechs christlichen Kirchen (griechisch Orthodoxe, lateinische Katholiken, orthodoxe Armenier, Jakobiten, Kopten und Äthiopier), die sich die Grabeskirche teilen, nach langen Auseinandersetzungen einen gemeinsamen Renovierungsplan verwirklicht haben. Das Bild von der wegen Einsturzgefahr gestützten Fassade gehört der Vergangenheit an und hat nur mehr Archivwert.

Das Heilige Grab — Anastasis (= Auferstehung) wie die Griechen sagen — ist auch heuer in der Osternacht wieder Schauplatz einer eindrucksvollen Liturgie. Wenn der griechische Patriarch im Heiligen Grab die Liturgie der Osternacht gefeiert hat und das Osterlicht entzündet, wird es an die Gläubigen weitergegeben. Sobald dann der Träger dieses Lichtes in der Türöffnung erscheint, geht ein Jauchzen durch die Menge der Gläubigen und aus Begeisterung wird der Lichtbringer auf Schultern getragen; so gibt er das Osterlicht weiter.

Draußen merkt man schon das Morgengrauen des Ostersonntags. Für die meisten Bewohner dieser Stadt ist er ein Werktag wie jeder andere.

Der Autor ist Professor am Institut für Judai-stik an der Wiener Universität und lehrt jüdische Religionsgeschichte.

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