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Wo die Erneuerung des indischen Subkontinents bereits gescheitert ist

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Ich schreibe aus Patna, Hauptstadt des indischen Bundesstaates Bihar, älteste Stadt Indiens. Vielleicht können Städte und Länder wie Menschen zu alt werden. Ich schreibe aus Patna, Hauptstadt des Bundesstaates Bihar, wo alle Regierungen der Kongreß-Partei vom Tag der Unabhängigkeit, dem 15. August 1947, bis zum Tag der Abrechnung mit der Indira- Diktatur, dem 16. März 1977, gescheitert sind - gescheitert in Chaos und Korruption.

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Ich schreibe aus Patna, Hauptstadt des indischen Bundesstaates Bihar, älteste Stadt Indiens. Vielleicht können Städte und Länder wie Menschen zu alt werden. Ich schreibe aus Patna, Hauptstadt des Bundesstaates Bihar, wo alle Regierungen der Kongreß-Partei vom Tag der Unabhängigkeit, dem 15. August 1947, bis zum Tag der Abrechnung mit der Indira- Diktatur, dem 16. März 1977, gescheitert sind - gescheitert in Chaos und Korruption.

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Ich kam im späten Monsun an einem Montag in Patna an. Jaya Prakash Na- •rayan empfing mich am nächsten Tag. Ein 75jähriger, der an jedem zweiten Tag unter der Dialyse liegt. Mehr als zwei Jahre lang war er „das andere Indien“ gewesen. Jetzt weiß er, daß er Pilgerstätte geworden ist, ein lebendes Denkmal, am Wege zurückgelassen, wie einst Mahatma Gandhi.

Ich frage Narayan, ob die Veränderungen, die er erwirkt hat, seinen Erwartungen entsprächen. Seine Antwort: „Es kommen immer weniger Menschen zu mir. Die Führer, die nach dem 16. März die Zügel in ihre Hände genommen haben, finden keine Zeit Ich erinnere mich noch, wie groß meine Erwartungen waren. Aber ich weiß nicht, was sich verändert hat.“ Ich frage ihn, ob er noch an seine „totale Revolution“ glaube; an die Umwandlung eines Staates, der in den Fesseln des Kastenwesens liegt, in ein freies Indien. Narayan Sagt: „Es war leicht, die Fesseln des Kolonialismus zu brechen. Die Fesseln des Kastenwesens - die kann ich jetzt nicht einmal lockern.“

Ich verlasse Narayans Haus. Man geht an einem Backsteinbau vorbei, den seine Frau, bevor sie starb, als Schule stiftete, bahnt sich den Weg durch Wartende. Kein Politiker ist unter ihnen, nur „Sozialarbeiter“ stehen herum. Zum Hof des Narayan zu gehören, ist profitable Auszeichnung in ihrer Welt der Heuchelei und des Parasitentums.

Unterwegs durch die engen Gassen sagt mein Begleiter Krishna: „Endstation Patna. Vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte Narayan in einer an-

deren Stadt begonnen. Was in Patna beginnt, kann nicht gelingen und muß in Patna zugrunde gehen.“

Patna zum ersten…

Im Oktober 1974 fuhr ich zum ersten Mal nach Patna. Die Dampflokomotive wurde, noch während ich ausstieg, von einer demonstrierenden Menge abgekoppelt. Es herrschte „Patna-Hartal“, erzwungener Stillstand der korrupten Wirtschaft, der korrupten Administration. Drei Tage lang blieben Geschäfte und Schulen geschlossen, durfte kein Fahrzeug über die Straßen der Stadt fahren, waren die Ämter leer, blieben Politiker und Bürokraten in ihren Wohnungen verschanzt. Narayan hatte den „Hartal“ proklamiert. Im Stillstand aber spürte man Leben und Hoffnung: und es war eine letzte Warnung an die Kongreßführung vor deren Ablöse.

Als ich die Stadt verließ, war der „Patna-Bandh“ schon vorbei, das „normale Leben“ hatte wieder begonnen - auch in den beiden monströsen Gebäuden der Landesregierung und der Landesverwaltung. „Patna ist nicht gefallen“, meldete damals Dr. Mishra, Chefminister der Landesregierung, der Indira Gandhi. Aber von Patna sollte sich dennoch ein „Hartal“

über ganz Indien ausbreiten und dem Indira-Regime ein Ende bereiten.

Patna zum zweiten…

Acht Monate später fuhr ich wieder nach Patna. Vor kurzem hatte Indira ihre Antwort auf den „Hartal“ gefunden: den Ausnahmezustand. Der Bahnhof von Patna war mit großen Spruchbändern geschmückt: „Disziplin und Größe der Nation“. Auf den Bahnsteigen, auf denen früher ganze Stämme und Großfamilien gelagert hatten, standen Gewehrpyramiden und Polizeiposten. Im bleiernen Monsunhimmel über der Stadt verflogen Rauch und Ruß der Dampflokomotive.

Patna war grau und schmutzig. Und Patna war die Stadt der Kreaturen des neuen Systems. Wie beflissen die Beamten waren, mir den Fortschritt zu zeigen, das „Ereignis von Autorität und Disziplin im Ausnahmezustand“! Dirigenten waren die korrupten Kongreßbosse; die Journalisten der Lokalpresse waren deren Hofhunde. Die Rikschakulis waren jetzt, Folge der sozialen Revolution des Ausnahmezustandes, Rikschabesitzer geworden, aber die Rikschas standen zerfaller und verstaubt an den Mauern herum, mit gebrochenen Deichseln. „Den neuen Herren müssen wir 30 Prozent unserer Einnahmen abliefern. Den Rikschaverleihem und Geldverlei- hem, den alten Ausbeutern, mußten wir einst auch 30 Prozent geben, aber die haben uns damals wenigstens die Rikschas repariert oder durch neue ersetzt.“

Patna zum dritten …

Am 18. März 1977 kam ich zum dritten Mal nach Patna, 18 Stunden nach der Unions wähl. Die Diktatur der Kongreßpartei war mit dem Wahlzettel beseitigt worden, die demokratische Janata-Partei war der Sieger. Narayan war nicht mehr im Gefängnis, sondern wieder in seinem Haus. Aber er war schon krank, er mußte schon jeden zweiten Tag unter die Maschine, die sein Blut erneuerte. Trotzdem spürte man Energie und Hoffnung. Po litische Führer berührten, wenn sie an Narayans Krankenbett traten, mit ihren Händen seine Füße und erbaten seinen Rat.

…. und vierten Mal

Sechs Monate sind seither vergangen. Ich fahre zum vierten Mal nach Patna. Wie veränderungsfähig eine alte, graue, von Slums zerfressene und von. Elendsdörfem umgebene Provinzhauptstadt doch sein kann! Taxifahrer fragen, in welches Luxushotel man gebracht werden will. Ich lasse mich die Straße entlangführen, die von den Villen der Regierungsmitglieder gesäumt ist, und der Chauffeur, ein politischer Fremdenführer, nennt mir vor jeder Villa den Namen des alten Besitzers, der ausziehen mußte, und den Namen des neuen Besitzers, der jetzt drinnen wohnt. Der Kongreß ging, die Janata kam. Ich lasse mir die Hotels zeigen. Ich denke mir: „Hier kann man leben.“ Aber wer kann hier leben?

Krishna holt mich vom Hotel ab und gibt mir die Antwort: „Sie alle, die Herren des alten Regimes, die im heuen Regime untergekrochen sind, und die neuen Herren des neuen Bi- har-Regimes“. Und Krishna erzählt mir von Narayan. Er sei sehr krank und verliere sein Gedächtnis.

Die Parasiten …

Zehntausende Parasiten kribbeln über das fast schon verwesende Bihar und mit jedem Regimewechsel werden es mehr. Mit ihrer Gier und mit ihrem Wohlstand wächst auch ihre Lebenserwartung. Und in den Slums meldet man ohnehin die Geburt eines Menschen nicht an, und auch nicht seinen Tod. Bihar hat sich seit dem Dürrejahr 1967 nicht erholt. Die Tiere, die damals krepiert sind, konnten noch nicht ersetzt werden. Fast kuhlose Hindu-Dörfer! Die Menschen sterben nicht mehr, wie 1967, an Hunger, sondern an Unterernährung und Schwäche.

Bihar könnte das reichste Land der Union sein. Der Boden birgt Erze, die Kohlevorräte sind fast unerschöpflich. Der breite Ganges und die kleineren Flüsse könnten elektrisches Licht in die entlegenste Hütte bringen, Bewässerung in die trockensten Felder. Es gibt auch überall Grundwasser. Doch die Kraft der Flüsse bleibt unausge- nützt, es fehlt an Generatoren, und die wenigen, die es gibt, arbeiten nur bis zu 30 Prozent ihrer Kapazität. Das Grundwasser bleibt tief in der Erde, denn man brauchte ungefähr 200.000 Pumpen, um es zu heben. Die Kohlegebiete sind die Kampfplätze rivalisierender Gewerkschaften, deren „Führer“ gegeneinander kämpfen und die Produktion auf weit unter 50 Prozent der Minenkapazität drücken.

Aus diesem Bundesstaat Bihar könnten gute Unions- und Provinzregierungen den ganzen Reichtum schöpfen, den Nordindien braucht. Doch die alte Kongreß-Regierung hat die Minen dem unkontrollierbaren Mechanismus einer Diktatur überlassen, die Dörfer großbäuerlichen Vertrauensmännern.

… und die Toten

Die neue Janata-Regierung hält es anders: Sie überläßtMinen und Dörfer der Anarchie. In einem Lande wie Bihar bedeutet eine schwache Regierung in Patna das Faustrecht der Landbesitzer lind der Männer aus den hohen Kasten. Im Dorf Belchi, zehn Kilometer von Patna entfernt, sind zwölf Parias von Hindus höherer Kasten auf einem sorgfältig vorbereiteten Scheiterhaufen verbrannt worden: „Bandenkrieg“ war hiefür die Polizeiversion. Wieso gibt es jetzt fast täglich „Bandenkriege“? Wieso sind es immer Parias, die in diesen Bandenkriegen ihr Leben verlieren?

Auf der Fahrt von Patna nach She- rif-Bihar begegnete ich achtmal den dörfischen Leichentransporten. Aus der Feme sieht das immer so aus, als ob sie eine Last trügen, keine allzu schwere. Erst aus der Nähe erkennt man, daß auf der Bahre aus Bambus eine in Tüchern gehüllte Gestalt liegt: rote Tücher, wenn es eine Frau, weiße Tücher, wenn es ein Mann gewesen ist. Wenn auf Marktplätzen der Verkehr zu dicht wird, heben die Träger diese Bahre hoch, um leichter durchzukommen. Dann sah ich eine am Straßenrand liegen, bevor sie auf die Bahre gelegt wurde: sie war schmächtig wie ein dürrer Ast. Dünne, rachitische Knochen, von fahler, dunkler Haut überzogen. Auf der Bahre sehen die Toten so leicht aus, als ob sie der Wind wegwehen könnte, wären sie nicht von den Tüchern festgehalten.

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