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Wo die Kirche für viele die letzte Hoffnung ist

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Eduard Ploier, der Vorsitzende des österreichischen Entwicklungsdienstes (ÖED), besuchte in den vergangenen Wochen Brasilien, Chile, Peru und Guatemala. Er studierte an Ort und Stelle Projekte, die die Katholische Männerbewegung (KMB) aus Mitteln der Aktion „Bruder in Not“ unterstützt. Während seiner Reise durch Lateinamerika sprach er mit den Armen in den Elendsvierteln der Großstädte, mit Kleinbauern auf dem Land und mit Priestern und Bischöfen. Sein Fazit: „Wir müssen darangehen, den Armen dort, wo sie leben, zur Seite zu stehen; sie aufmuntem, die Gestaltung der Welt selbst in die Hand zu nehmen.“ Und: „Wir dürfen nicht Entwicklungshilfe', sondern müssen Entwicklungspolitik' betreiben.“ In diesem Beitrag faßt Ploier für die „FURCHE“ seine Eindrücke von der Kirche in Lateinamerika und die Schlüsse, die Christen in Europa zu ziehen hätten, in einem Bericht zusammen.

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Eduard Ploier, der Vorsitzende des österreichischen Entwicklungsdienstes (ÖED), besuchte in den vergangenen Wochen Brasilien, Chile, Peru und Guatemala. Er studierte an Ort und Stelle Projekte, die die Katholische Männerbewegung (KMB) aus Mitteln der Aktion „Bruder in Not“ unterstützt. Während seiner Reise durch Lateinamerika sprach er mit den Armen in den Elendsvierteln der Großstädte, mit Kleinbauern auf dem Land und mit Priestern und Bischöfen. Sein Fazit: „Wir müssen darangehen, den Armen dort, wo sie leben, zur Seite zu stehen; sie aufmuntem, die Gestaltung der Welt selbst in die Hand zu nehmen.“ Und: „Wir dürfen nicht Entwicklungshilfe', sondern müssen Entwicklungspolitik' betreiben.“ In diesem Beitrag faßt Ploier für die „FURCHE“ seine Eindrücke von der Kirche in Lateinamerika und die Schlüsse, die Christen in Europa zu ziehen hätten, in einem Bericht zusammen.

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Vieles in Lateinamerika hat mich beeindruckt. Ein Satz, den ich in Brasilien oft hörte, klingt noch im Ohr: „Wir haben nur zwei Möglichkeiten: entweder elend zu verhungern oder in einer gewaltsamen Auseinandersetzung um unser Recht zu sterben.“ Ein brasilianisches Sprichwort kann ich nicht vergessen: „Mach es gewaltlos; geht es nicht, mach es mit Gewalt. Aber sei nicht lau!“

Verstehen wir Europäer diese Sprache?

In Europa ist heute viel von „Entwicklungshilfe“ die Rede. Das Wort verführt dazu, „Hilfe“ als Almosen für die benachteiligten Schichten der Bevölkerung Lateinamerikas zu verstehen. Dabei vergißt man, daß die Ursachen beseitigt werden müssen, die zu der grenzenlosen Armut und Benachteiligung von Millionen Menschen geführt haben. Wir müssen darangehen, den Armen dort, wo sie leben, zur Seite zu stehen; sie aufmuntem, die Gestaltung der Welt selbst in die Hand zu nehmen. Wir dürfen nicht „Entwicklungshilfe“, sondern müssen „Entwicklungspolitik“ betreiben.

Die hungernde Mehrheit der Lateinamerikaner ist ohne Stimme. Diese Armen und Benachteiligten können das Geschehen um sie herum nicht beeinflussen. Sie sind ohnmächtig den Mächtigen ausgeliefert.

Ein Beispiel: Seit 1972 wird am Fluß Sab Francisco im Nordosten Brasiliens ein Kraftwerk mit einer Leistung von mehr als 1000 Megawatt errichtet. Durch den Stau wird bis 1982 der größte künstliche See der Welt mit 350 Kilometern Länge und einer Breite bis zu 40 Kilometern entstehen.

Mehr als 70.000 Menschen mußten ihre Besitzungen an den Ufern des Rio Säo Francisco verlassen. Während die Großgrundbesitzer von der Elektrizitätsgesellschaft CHESF angemessen entschädigt wurden, ist die Lage der Kleinbauern katastrophal: Alle, die keinen legalen Anspruchrauf das Land haben - und das ist die Mehrheit -, haben keinen „Fortschritt“ erfahren.

Die Vorgangsweise des Elektrizitätsversorgungs-Unternehmens ist ähnlich wie die Landbesitznahme durch Großgrundbesitzer: die kleinen Landarbeiter, die seit Generatio-

nen ihre Grundstücke bewirtschaften, aus Armut ihre Rechte und „Besitztitel“ jedoch nicht im Grundbuch eintragen lassen konnten, werden mit Gewalt vertrieben.

Was unternimmt die Kirche Lateinamerikas gegen Willkür und “Ungerechtigkeit der Mächtigen? Das Christentum entscheidet sich für die Armut: „Wir haben uns für die Armut entschieden; wir haben uns zur Armut bekehrt“, sagt man. Hinter dieser „Entscheidung für die Armut“ stünden heute schon 20 Prozent der Bischöfe, die es „aufgegeben haben, auf dem Umweg über die Mächtigen die Strukturen des Landes zu verändern“.

Sicherlich wissen die Bischöfe in Brasilien, daß die Kirche für alle Menschen da sein muß, also nicht nur für die Armen. Man erfährt, daß es reiche Menschen gibt, die durch Meditation, Gebet und Almosen christliches Leben zeigen. Aber man fragt sich in jenem Teil der Kirche Brasiliens, der sich für die Armut entschieden hat, was Almosen an falschen Strukturen ändern können?

Die junge, dynamische Kirche Brasiliens, die sich für die Armut entschieden hat, läßt Bemühungen der Reichen mitleidig lächelnd beiseite liegen. Der Arme selbst, betont man, muß seine Situation ändern. Es soll das - und nur das - geschehen, was der Betroffene selbst will.

In einem Gespräch mit Don Josė Rodriguez - er ist Bischof in der Diözese Juazeiro, wo der größte künstliche See der Erde entsteht - wurde das deutlich. Im November fand in Juazeiro die erste Generalversammlung statt, bei der 80 Laien mit Sitz und Stimme zugelassen waren.

Als ich fragte, ob der Bischof die Beschlüsse der Versammlung emst- nehme, antwortete er entrüstet, daß die Beschlüsse in dem Augenblick, in dem sie von dem Forum gefaßt worden seien, auch für ihn gelten, und zwar auch dann, wenn diese Beschlüsse gegen seine wirkliche Über zeugung seien. „Alles andere“, sagte der Bischof, „ist eine Farce und erwachsenen Menschen nicht zumutbar.“

Der Arme und Unterdrückte muß sich seinen Weg selbst suchen. Damit er ihn findet, ist eine gute Erziehung zum Widerstand notwendig, sagt man. Der Widerstand muß gewaltlos sein - aber wenn es nicht anders geht, solle man nicht lau sein

Die brasilianische Kirche hat heute rund 80.000 „Basisgemeinden“. Sie arbeiten mit allen weltanschaulichen und politischen Schattierungen zu-

„Die junge, dynamische Kirche Brasiliens, die sich für die Armut entschieden hat, läßt die Bemühungen der Reichen mitleidig lächelnd beiseite liegen“

sammen. Allerdings sehen nicht alle Bischöfe diese Basisgemeinden mit Begeisterung. Aber viele Bischöfe sind überzeugt, daß diese Basisgemeinden die Kirche Brasiliens und ihre Struktur entscheidend ändern könnten.

Auf meine Frage, wie die Basisge meinden entstanden, sagte Bischof Rodriguez, daß diese Frage nicht beantwortet werden könne: „Sie sind einfach da.“

Der Bischof erzählte dann von einem Gebiet seiner Diözese mit rund 80 Dörfern, wo sich die Basisgemeinden alle 14 Tage treffen. Zur Zeit denken diese Versammlungen über die Menschenrechtserklärung der UNO nach und versuchen, sie auf ihre Situation anzuwenden. Bischof Rodriguez meinte, Bischöfe könnten derzeit ohne Befragung der Basis gar nicht mehr entscheiden. Wo die Basisgemeinden sehr stark seien, könne in Zukunft der Bischof nur mehr in engster Verbindung mit ihnen arbeiten.

Was die „Communidades de Base“, die Basisgemeinden, für die künftige Entwicklung Lateinamerikas bedeuten könnten, faßte der Erzbischof Helder Pessoa Camara (Olinda und Recife) in dem Satz zusammen: „Die Basisgemeinden sind unsere neue Waffe.“ Die Priester und Ordensfrauen in Lateinamerika hätten schon erkannt, daß es viel wichtiger sei, mit den Leuten anstatt für die Bevölkerung zu arbeiten.

Zu einem Gespräch im Sekretariat der brasilianischen Bischofskonferenz, zu dem der Sekretär der Bischofskonferenz, Don Loüciano, ei-

nen ganzen Stab von Abteilungsleitern beizog, sagte ich, in Brasilien sei mir vor allem die Frage der ungerechten Landnahme aufgefallen. Ich fragte, ob man es für gut fände, wenn in Europa ein Fonds geschaffen würde, mit dem man mehr Modellprozesse als bisher gegen die brutalen Enteigner führen könnte. Das gesamte Forum ermutigte mich, dieses Problem weiterzuverfolgen.

In Lateinamerika gibt es nur wenige Rechtsanwälte, die es wagen, die Rechte der Unterdrückten öffentlich zu verteidigen. Man erzählte mir, daß Bauern ihrer Rechtsanwältin, die eine Morddrohung erhielt, schrieben, sie würden mit ihr in den Tod gehen. Man machte mich darauf aufmerksam, daß es sich um keine leere Floskel handelte, sondern daß die Bauern tatsächlich ihr Leben für die Rechtsanwältin einsetzen würden: „Einen Freund läßt man nicht im Stich.“

Brasilien ist voll von Spannungen. Für viele Menschen scheint es keinen Ausweg zu geben. Hoffnung gibt ein-

„Insgesamt ist die Kirche in Lateinamerika hoffnungsfroh. Man blickt zum Teil sogar selbstbewußt auf die Kirche in Europa“

zig und allein die Kirche. In einem Gespräch sagte ein Bischof, die nächsten Jahre würden für Brasilien entscheidend sein. Wenn es gelänge, eine Änderung der Verhältnisse herbeizuführen, sei es gut Wenn es nicht gelänge, sei von der Kirche insgesamt eine historische Stunde versäumt worden.

Insgesamt ist die Kirche Lateinamerikas hoffnungsfroh. Man blickt zum Teil sogar selbstbewußt auf die Kirche in Europa; man ist zum Teil überzeugt daß die Kirche Europas von Südamerika her erneuert werden wird: „Der Europäer denkt zu viel in Formeln, bei uns hier in Brasilien hat das Charisma noch Raum.“

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