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Wo die Menschen durch Kiemen atmen müßten

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Umweltschutzfragen werden auch in Jugoslawien immer dringlicher. Die stürmische Industrialisierung, die das Land zu einem mittel entwickelten Land heranführte, fordert unversehens ihrtp Preis.

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Umweltschutzfragen werden auch in Jugoslawien immer dringlicher. Die stürmische Industrialisierung, die das Land zu einem mittel entwickelten Land heranführte, fordert unversehens ihrtp Preis.

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Während einer im jugoslawischen Bundesparlament abgehaltenen wissenschaftlichen Konferenz wurden die Grundlagen für ein bis zur Jahrtausendwende reichendes „Programm zum Schutz des menschlichen Lebensraumes" gelegt. Obwohl Jugoslawien das erste Land Europas war, das Umweltschutzgesetze in seiner Verfassung verankert hat, wurden sie leichtsinnigerWeise nicht beachtet. Im Kompetenzwirrwarr zwisehen Bund, Teilrepubliken und Gemeinden blieb die Umweltschutzkontrolle auf der Strecke. Schwere Umweltschutzschäden von Slowenien bis Montenegro zwingen zum Umdenken.

Das bei der Bundesregierung in Belgrad geschaffene Koordinierungskomitee für Umweltschutz soll für die Einhaltung der rund 300 einschlägigen Vorschriften durch die Fachministerien, die Umweltschutzkomitees bei den Regierungen der Teilrepubliken und autonomen Provinzen und den Inspektoraten in den Gemeinden sorgen. Mehrere Umweltschutzprojekte wurden durch sogenannte „Selbstverwaltungsabkommen" beschlossen, vor allem im Bereich des Gewässerschutzes, wie zur Reinhaltung der Save und der Donau.

Daß die Gelder für umwelterhaltende Maßnahmen lediglich ein Prozent der Gesamtinvestitionen betragen, wirkt wenig ermutigend. „Bisher suchten wir Anschluß an die industrielle Entwicklung in der Welt, mußten schnell Arbeitsplätze schaffen und deshalb oft beide Augen zudrücken. Jetzt erhält kein Industriewerk mehr eine Betriebsgenehmigung ohne entsprechende Umweltschutzanlagen", erklärte uns dezidiert der Vorsitzende des Koordinierungskomitees bei der Belgrader Regierung.

Eine breit angelegte Aufklärungskampagne über ökologische Fragen und Probleme, wird kaum zu umgehen sein, um die Bevölkerung wach zu rütteln. Auch energische Maßnahmen gegen Umweltverschmutzer werden unumgänglich. Die Strafen für Verschmutzer, insbesondere Industriebetriebe, kommen noch allemal billiger, als aufwendige Rei-nigungs- und Kläranlagen, oder gar die Einführung umweltfreundlicher Technologien, die überdies großteils importiert werden müßten.

Ein Beispiel aus Bosnien, der Eisen- und Stahlstadt Zenica, die ein typisches Beispiel für bedenkenlose Industrialisierung ist. Die Luftverschmutzung hat das 18fache des Normalwertes erreicht. 1.300 Kilogramm Partikelchen von Kadmium, Blei, Zink senken sich täglich auf die 100.000 Einwohner .der Stadt. 88 Milliarden Kubikmeter Rauchgase und 75.000 Tonnen Schwefeldioxyd, die vom Eisenkombinat „produziert" werden, bedrohen die Gesundheit der Arbeiter und Bürger.

Die Abgase einer seit Monaten schwelenden Abraumhalde, die durch Winde in das enge Tal getrieben werden, verschärfen die Situation. Aus der Kokerei des Werks entweichende, giftige Gase, lösten kürzlich Katastrophenalarm aus. „Die Menschen in Zenica müßten durch Kiemen atmen", schrieb das kroatische Parteiblatt „Vjesnik" entsetzt.

Regelmäßigen Gesundheits- und Blutbildkontrollen werden deshalb jung und alt unterzogen. Bei drei von vier Kindern sind die Atmungsorgane defekt, in den Wintermonaten werden epidemieähnliche Wellen von Bronchienerkrankungen verzeichnet. Irritati-ve Effekte auf Bindehäute und

Schleimhäute mehren sich.

Uber die Zahl der asthmakranken Arbeiter im Kombinat ist nichts Näheres zu erfahren. Nur soviel, daß von den 17.000 Beschäftigten im Werk, jährlich mindestens 3.000 auf Kosten des Betriebes in Luftkurorte verschickt werden.

In die Gesundheitskontrollen sind die Bewohner der umliegenden Dörfer einbezogen. 22 Meßstationen wurden im Stadtgebiet von Zenica installiert, ihre Meßwerte werden regelmäßig im Lokalblatt publiziert.

„Das von allen politischen und wirtschaftlichen Organisationen beschlossene Sanierungsprogramm wird die Lage verbessern", versichert in gutem Deutsch der Bürgermeister, Boza Kozel. „Schrittweise werden im Werk Filter und Reinigungsanlagen installiert. Alle Wohnhäuser in der Stadt werden an eine Fernheizung vom Werk angeschlossen werden. In der Stadt gibt es schon jetzt viel Grün, und um die Stadt werden Grüngürtel angelegt".

Nach Meinung von Boza Kozel dürfte das Sanierungsprogramm etwa sieben Milliarden Schilling verschlingen — auf Basis der Preise von 1982. Die finanzielle Hauptlast trägt das Eisenkombinat, die Bürger werden zu einer freiwilligen Umweltschutzsteuer veranlagt.

Zenica ist nur ein „Schmutzherd" in Bosnien. Vier Millionen Bosniaken leben bereits in Luftverhältnissen, die 16 Millionen Einwohnern entsprechen. Bei weiter anhaltender Umweltverschmutzung droht diese noch vor 40 Jahren unberührte Gegend Bosnien, die grüne Lunge Jugoslawiens, zu kippen!

In Serbien sind bereits einige große Flüsse vergiftet — die westliche Morava und der Ibar. Ihre Wasser sind nicht grau oder schmutzig, sie wälzen sich als stinkende, rote Brühe durch die —

noch — fruchtbaren Täler Ostserbiens. 250 Millionen Kubikmeter Abwässer, vor allem Phänol, töten jedes Leben in den Flüssen. Den Vergiftungsgrad könnten nach Meinung von Fachleuten weder Wolga, noch der Nil durch Selbstreinigung verkraften.

In der Stadt Kraljevo kann die städtische Wasserleitung, in den umliegenden Dörfern die Brunnen, nur ausnahmsweise genutzt werden. In den Sommermonaten erfolgt die Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser aus Zisternenwagen. Dabei sind die Umweltverschmutzer bekannt — das Kohlekraftwerk Obilic und ein Dutzend chemischer Fabriken.

Niemand tut etwas, Belgrad scheint ohnmächtig. Der Filz von Technokraten, Funktionären auf Bezirks- und Gemeindeebene ist undurchdringlich! In Kroatien, im Naturschutzgebiet Kopackirit, nahe der Mündung der Drau in die Donau, setzte das große Fischsterben ein. In die naturgeschützte Auenlandschaft leitete Jahrzehnte eine staatliche Schweinefarm unbekümmert die giftigen Abwässer. Der Bestand der Farm: 80.000 Schweine! Das kroatische Fernsehen strahlte einen erschütternden Filmbericht über das entsetzliche Sterben zehntausender Karpfen, Hechte, Welse und anderer Fischarten aus!"

In Montenegro droht dem tiefsten und längsten Canyon Europas Gefahr — der Tara. Wie der Grand Canyon in Amerika ist er ein Kulturdenkmal der Menschheit. Auf Bitte der jugoslawischen Regierung wurde die Tara 1980 unter den Schutz der UNESCO gestellt. Trotzdem soll der einmalige Fluß dem steigenden Energiebedarf geopfert werden.

Zuerst wollte die Landesregierung von Montenegro einen Teil des Wassers der Tara zur Adria umleiten, um 300 bis 400 Millionen Kilowatt-Stunden elektrischer Energie zu gewinnen. Jetzt haben sich die Regierungen der Teilrepubliken Montenegro und Bosnien-Herzegowina auf ein gemeinsames Projekt an der Einmündung der Tara in die Drina geeinigt.

21 Staustufen mit Wasserkraftwerken sollen die Gewässer beider Flüsse zubetonieren, um zehn Milliarden kWh Energie zu gewinnen. Der Rückstau des Wassers würde den bis zu 160 Meter tiefen Canyon, die Tara, in einem 40 bis 50 Kilometer langen See versinken lassen. Auch die einmalige Biofauna des mehrere hundert Quadratkilometer großen Naturschutzgebietes um das Dur-mitormassiv und der Tara würde vernichtet.

Gegen soviel „Fortschritt" machte sich in dem der Industrialisierung hörigen Jugoslawien Widerstand bemerkbar. Spontan entstandene Umweltschutzkomitees, Aktionsgruppen „Rettet die Tara" bombardieren die Regierungen in Belgrad, Titograd und Sarajevo mit Petitionen und Denkschriften.

Sie weisen nach, daß die geplanten Projekte im Jahre 1990 nur 0,5 Prozent des Energiebedarfes Jugoslawiens decken würden, im Jahre 2010 gar nur noch 0,2 Prozent. Bei den jugoslawischen Medien haben sie überraschend viel Verständnis und publizistische Unterstützung gefunden.

Die UNESCO wiederum droht, Jugoslawien alle Gelder zur Erhaltung oder zum Wiederaufbau von Kulturdenkmälern zu sperren. Diese Drohung versteht man vor allem im Erdbeben-gefährdeten Montenegro. Dort gibt es aber auch pfiffige balkanische Händler. Ob die Summen von der UNESCO den Verlust an geplanten Küowatt aufwiegen können?

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