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WO FEHLT DEN MENSCHEN DIE NAHRUNG?

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Die Schätzungen schwanken zwischen 500 und 800 Millionen - aber fest steht: Zumindest eine halbe Milliarde Menschen hungert, leidet an akuter, lebensgefährlicher Unterernährung. Die Bevölkerungsentwicklung (Dossierthema in FURCHE 44/1991) ist nicht die einzige, aber eine wesentliche Ursache dieses Problems. Wie könnte man es lösen? Wie sollte zukünftige Entwicklungspolitik aussehen?

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Die Schätzungen schwanken zwischen 500 und 800 Millionen - aber fest steht: Zumindest eine halbe Milliarde Menschen hungert, leidet an akuter, lebensgefährlicher Unterernährung. Die Bevölkerungsentwicklung (Dossierthema in FURCHE 44/1991) ist nicht die einzige, aber eine wesentliche Ursache dieses Problems. Wie könnte man es lösen? Wie sollte zukünftige Entwicklungspolitik aussehen?

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Trotz e indrucks voller Produktionszunahmen in vielen Ländern der Dritten Welt sind zirka 20 Prozent der Bevölkerung von nahezu 100 Entwicklungsländern weiterhin unterernährt. Die Verfügbarkeit beziehungsweise der Verbrauch von Nahrungsmitteln wird quantitativ auf Grund des Nahrungsenergieangebotes (dietary energy supply, DES) in Kilokalorien (kcal) pro Kopf und Tag gemessen. Im Mittel der Jahre 1986 bis 1988 betrug das DES im Weltdurchschnitt 2.671 kcal, verglichen mit 2.587 kcal im Mittel 1979 bis 1981. Während in den markt-wirtschaftliehen Industrieländern 3.389 kcal (3.300 kcal) zur Verfügung standen, waren es im Durchschnitt der marktwirtschaftlichen Entwicklungsländer 2.352 (2.317) kcal, mit Schwankungen zwischen 2.119 kcal in Afrika und 2.914 kcal im Nahen Osten. (Den höchsten quantitativen Konsum hatten 1986 bis 1988 Osteuropa und die Sowjetunion mit 3.418 kcal - Ausdruck eines Überkonsums an Kohlehydraten.)

Der Abstand zwischen dem Mittel aller Industrieländer und aller Entwicklungsländer (2.434 kcal) übersteigt somit 900 kcal pro Tag; er ist seit den siebziger Jahren deutlich geringer geworden und gestattet angesichts eines Überkonsums in den Industrieländern auch keine unmittelbare ernährungsphysiologische Bewertung. Jedenfalls erreichte das DES in den Entwicklungsländern 1969 bis 1971 erst 65 Prozent des DES der Industrieländer, 1986 bis 1988 dagegen immerhin 72 Prozent.

Allerdings verringerte sich die Zunahme des durchschnittlichen Tagesverbrauches in den achtziger Jahren in den meisten Entwicklungsländern als Folge schwieriger wirtschaftlicher Verhältnisse und zunehmender Armut.

Innerhalb der Dritten Welt ergab sich überdies in den letzten Jahren eine zunehmende Polarisierung zwischen extremen Situationen, insbesondere - wie schon angedeutet -zwischen dem Nahen Osten (und einigen Schwellenländem) auf der einen und Afrika auf der anderen Seite, wo nicht allein das Konsumniveau seit den siebziger Jahren am niedrigsten ist, sondern überdies zwischen 1979-81 und 1986-88 ein durchschnittlicher jährlicher Rückgang des DES um 0,2 Prozent erfolgte.

Die entscheidenden beiden Bestimmungsgründe der Ernährungssituation eines Landes sind seine Fähigkeit, die inländische Erzeugung auszudehnen, sowie seine Importkapazität: Für alle Entwicklungsländer zusammen besteht ein klarer Zusammenhang zwischen der Höhe des DES und der Wachstumsrate der Produktion, wobei Exporte und Importe eher für einen Ausgleich der „Spitzen" sorgen. Die asiatischen Länder, insbesondere auch die „Riesen" Indien und China, konnten ihr DES (in China mit plus 1,6 Prozent von 1979/81 bis 1986/88 überdurchschnittlich) fast zur Gänze auf Grund inländischer Produktionserfolge erhöhen, während die Importe nur einen kleinen, stabilen Anteil hatten. In Lateinamerika war die sehr langsame Zunahme der Tagesrationen in den achtziger Jahren auf eine Verlangsamung des Wachstums der Inlandserzeugung und auf scharfe Einfuhrreduktionen zurückzuführen. In Afrika konnte das Versagen der heimischen Agrarproduktion seit den frühen siebziger Jahren auch durch zunehmende Importe nicht kompensiert werden, zumal ausreichende kommerzielle Importe nicht finanzierbar waren und sind; dadurch stagnierte das DES auf niedrigem Niveau und nahm später sogar ab.

Höchste Zunahme in Afrika Auf Grund des DES kann unter bestimmten Annahmen von Soll-Werten auf Ausmaß und Verbreitung von Unterernährung geschlossen werden. Aus 1989 vorgelegten Schätzungen der Weltemäbrungsorganisa-tion FAO auf der Basis von Daten der Jahre 1983 bis 1985 dürfen folgende Schlußfolgerungen gezogen werden:

Die Zahl der unteremährten Personen erhöhte sich in den marktwirtschaftlichen Entwicklungsländern von 1969/71 bis 1979/81 schätzungsweise um 15 Millionen und in den folgenden fünf Jahren um weitere 37 Millionen beziehungsweise elf Prozent auf insgesamt 517 Millionen um 1985. Trotz dieser absoluten Zunahme der Unteremährten nahm ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung der betreffenden Länder in den achtziger Jahren auf „nur" 21 Prozent ab, da die Gesamtbevölkerung im selben Zeitraum stärker (um 40 Prozent) anstieg.

Absolut am meisten Unterernährte gibt es zwar weiterhin im Femen Osten, wo ja auch der relativ größte Teil der Drittweltbevölkerung lebt; doch nahm dort der Anteil der Unteremährten von 61 Prozent (1969 bis 1971) auf 56 Prozent (1983 bis 1985) ab. Dagegen war in Afrika in diesei.i Zeitraum eine deutliche Zunahme festzustellen, und zwar in der ersten Hälfte der achtziger Jahre um 27 Prozent. Es wird angenommen, daß um 1983 bis 1985 ein rundes Drittel der Afrikaner unterernährt war, ein etwa ebenso hoher Anteil wie Anfang der siebziger Jahre. Nur im Nahen Osten hat auch die absolute Zahl der Unteremährten abgenommen. .

1990 traten ernährungswirtschaftliche Engpässe und akute Versorgungsnotstände - wie auch schon in den achtziger Jahren - hauptsächlich in Afrika auf. In Äthiopien und dem Sudan waren die Emteaussichten 1990 witterungsbedingt dürftig; dazu kommen die verheerenden Auswirkungen von Bürgerkrieg und Flüchtlingselend, wodurch überdies eine Notversorgung von außen erschwert wird. Auch in anderen afrikanischen Ländern, wie Angola, Liberia und Mocambique, sind kriegerische Ereignisse und anhaltender Terrorismus mindestens ebensosehr an der Versorgungsmisere beteiligt wie ungünstige Witterungsbedingungen.

Ernste Nahrungsmittel-Versorgungsengpässe wurden 1990/91 außerdem aus neun außerafrikanischen Entwicklungsländern gemeldet, darunter Afghanistan und Sri Lanka, Jordanien und der Libanon, Bolivien,

Haiti, Nikaragua und Peru. Neuerdings werden schwere Versorgungskrisen aus einigen ehemals kommunistischen Ländern gemeldet oder für den kommenden Winter befürchtet, insbesondere aus der Sowjetunion, Rumänien und Albanien. Für die Sowjetunion ist dies umso bemerkenswerter und schwerer verständlich, als dort die Ernte 1990 sehr gut ausgefallen war und die Nahrungsmittelerzeugung laut FAO sogar um 4,5 Prozent zugenommen hatte.

Akute Versorgungskrisen In vielen Ländern und Regionen der Dritten Welt, aus denen aktuell keine Versorgungsprobleme gemeldet werden - wie zum Beispiel Bangladesch -, genügt indessen eine einzige Saison mit ungünstiger Witterung oder eine größere Naturkatastrophe (Sturmflut, Vulkanausbruch...), um eine akute Versorgungskrise auszulösen, zumal bereits die „normale" Versorgung eines Großteils der Bevölkerung an der Hungergrenze liegt und echte Reserven fehlen. Die FAO wird daher 1992 gemeinsam mit der Weltgesundheitsorganisation WHO in Rom eine internationale Konferenz abhalten, bei der eine koordinierte Strategie für einzelstaatliche und internationale Maßnahmen zur Ausrottung (!) von Hunger und Unterernährung beschlossen und ein Welt-Informationssystem über den Stand der menschlichen Ernährung eingerichtet werden soll.

Der Autor ist Mitarbeiter der Bundesanstalt für Agrarwirtschaft in Wien.

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