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Wo liegt Osten?

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Sie war eine Dame mit strengen Prinzipien: Zwei Jahrzehnte lang hatte sie versucht, die ihr anvertrauten Schüler in die vielfältigen Mirakel der deutschen Sprache einzuführen; verbissen hatte sie clie Deutschaufsätze korrigiert, und wem solches widerfährt, den kann in diesem Leben wohl nichts mehr schrecken.

Also kaufte sich Frau Dora ein Moped und einen in der Farbe dazupassenden Sturzhelm.

Dieser Kauf erwies sich schon anderntags als eine blanke Katastrophe: Kaum hatte Frau Dora ihr Moped aus dem Schulhof ge-

lenkt, sah sie einen Radler auf sich zukommen; verzweifelt dachte sie an Bremsmöglichkeiten, aber es wollte ihr nichts Rechtes einfallen. So dachte sie noch schnell ans eigene Knochenheil und rief alle Heiligen an — doch ehe diese reagieren konnten, hatte sie schon den Radler erwischt.

Sie erwischte ihn sozusagen in aufeinanderfolgenden Wellen: Zuerst kam das Moped, dann kam Frau Dora geflogen, schließlich folgte die Handtasche nach.

Als vierte und letzte Welle kam ein Lippenstift an. Von allen diesen Wellen wurde der Radfahrer, ein braver Bürger vomamens Konrad, einfach zugedeckt: Es war ein feiner Zusammenstoß, der allen Beteiligten zur Ehr’ gereichte.

Die nächsten zwei Wellen schwemmten Zuschauer und

Gendarmeriebeamte an. Das Gericht bemühte sich um einen gediegenen Abschluß.

Richter (zu Frau Dora): „Sie sind also beim Schulhof hinausgefahren und dann in Richtung Osten…?“

Frau Dora, die als Lehrerin Genauigkeit schätzte: „Westen!“

Richter: „Woher wollen S’ wissen, daß es Westen war?“

Dora: „Weil wir lernen, daß im Westen die Sonn’ unter geht, und dorthin, wo ich g’fahren bin, ist die Sonne gerade untergegangen.“

Richter: „Was hat das mit dem Fall zu tun?“

Frau Dora mit präzeptorischer Strenge: „Die Sonne geht halt im Osten auf, das weiß man von der Schule her.“

Es war zu sehen, daß der Richter jetzt mit sich selbst zu Rate ging; er zog sich sozusagen zur Klärung des Falles in sich selbst zurück. Hierauf gab er das Resultat seines Gedankenprozesses bekannt: „Holen S’ an Beamten, er soll einen eingenordeten Plan vom Bezirk bringen.“

Mit dieser Weisung wurde die Schreibkraft bedacht. Nach einiger Zeit erschien ein unterer Unterbeamter und fragte: „Herr Richta, wia sull der Plan sein?“

Richter: ,JZingenordet! Norden soll genau eingezeichnet sein.“

Der untere Unterbeamte sagte

„Ah so“ und „Moch ma“ und erschien einige Zeit später mit einem Plan des Bezirks, breitete ihn auf den Tisch, zeigte auf einen dicken Strich und sagte: „Nurdn (Norden)!“ Frau Dora korrigierte: „Das ist Süden!“

Der Richter zum Beamten: „Wie haben S’ denn Norden eingezeichnet?“

Mit Lächeln der Beamte: „Noch’m Gfühl.“ (Man vertagte.)

Aus: NEUES KLEINES BEZIRKSGE- RICHT. Von Ewald Autengruber. Verlag Ulrich Moser, Graz 1987.

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