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Wo sind die Investoren?

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Über das Geschehen in Moskau ist man gerade noch informiert. Aber was geschieht fernab vom Zentrum Rußlands? Im folgenden Eindrücke von einem Besuch in Jekaterinenburg im Ural.

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Über das Geschehen in Moskau ist man gerade noch informiert. Aber was geschieht fernab vom Zentrum Rußlands? Im folgenden Eindrücke von einem Besuch in Jekaterinenburg im Ural.

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Am Herrentag gehen wir zur heiligen Liturgie in der Metro-politankirche des Bischofs Mel-chisedek. Von den 44 Kirchen vor der russischen Revolution sind nur mehr fünf kleinere im Gebrauch, obwohl viel mehr nötig wären. Eine davon hieß „Österreichische Kirche”. Längere Zeit spielte Österreich nämlich die Rolle einer Quasi-Schutzmacht über die vertriebenen Altgläubigen im Ural-Gebiet. Jetzt ist die Kirche ein Spital.

Beim Betreten des Klosterhofes und der Kirche gibt es viele Bettler. Dicht gedrängt feiern die Gläubigen, darunter viel Jugend, ihre orthodoxe Innigkeit. Ein sehr alter Priester nimmt linkerhand die halböffentliche Beichte ab: Großes Gedränge! Trotzdem ist jede Absolution persönlich. Als ich mich hinzudrängte, staune ich über seine offenkundige Gabe der Seelenschau. Beim Verlassen werden meine Frau und ich von strahlenden Augen und herben Händen beschenkt: Heiligenbilder, Medaillen, sogar ein Gebetbuch.

Während der Woche statte ich dem Bischof einen Besuch ab. Er war sieben Jahre lang in Wien orthodoxes Oberhaupt gewesen. Er fragt auf Wienerisch sofort nach dem Befinden des Alt-Erzbischofs

Franz König, schätzt Tätigkeit und Geist von Pro Oriente. Aber, als Dis-sertant über das Zweite Vatikanum drückt er weiterhin seine Traurigkeit darüber aus; noch trauriger ist er über den neuen Katechismus. Wir sprachen zwei Stunden. Er schenkte mir seinen soeben verfaßten orthodoxen Katechismus für Kinder. Ob ich ihn zur Rettung der Seelen der römischen Katholiken übersetzen wolle? Yuri Samarin, Vorsitzender des Jekaterinenburger Sowjets, hatte viele konkrete Fragen über den Westen, ebenso wie der Gouverneur der Ural-Region, Eduard Rossel. Beide versuchen realistisch und praktisch den Übergang nach der Perestrojka zu begreifen. Schwer zu verstehen für sie, warum ausländische Investitionen praktisch nur an die Zentralregierung gegeben werden. In den Ural kommt kein Geld.

Wenige Privatfirmen

Auch die zentrale Wirtschaftsgesetzgebung ist der Marktwirtschaft weitgehend feindlich eingestellt. Was ist überhaupt öko-soziale Marktwirtschaft? In ganz Bußland soll es 300.000 Privatfirmen geben. Meist handelt es sich nicht um Produktions-, sondern um Handelsfirmen, viele von ihnen werden von Südländern aus dem Kaukasus betrieben. Die Bazarmentalität überwiegt. „Mafiosi” hört man unentwegt schimpfen. Wie kann sich eine reiche Region von der Inflation abkoppeln?

Eduard Rossel organisierte gerade eine Investment-Konferenz und lud mich dazu ein. Unter anderem sprach Wirtschaftsberater Abalkin zu über 900 Russen, vorzüglich aus Betrieben und Instituten. Unter den Zuhörern sind auch 33 Ausländer; kein einziger Investor, kein einziger

Österreicher. Westliche Berater scheint man mit wachsendem Mißtrauen zu betrachten.

Gerüchte gibt es jede Menge. Man ist wohl auf der Seite Jelzins -er ist ja ein „local boy” -, steht aber seinem Wirtschaftsprogramm, seinen Föderalisierungsplänen, seinen Verfassungs- und Wahlstrategien kühl gegenüber. Die Reformen erscheinen zu langsam, sind oft kopflos. Manche meinen, Jelzin . habe Rußland an die Weltbank und an die Amerikaner „verkauft”, weil Geld nur für den bankrotten Staatskapitalismus fließt, nicht jedoch für eine konstruktive Produktivität.

Rossel erzählt, täglich verhungerten hier Pensionisten, weil die Pension nicht einmal reicht, um Brot zum Überleben zu kaufen. Der Mann auf der Straße hat den Eindruck, Jelzin habe kein Rezept, die unhaltbaren ökonomischen Zustände zu ändern. Der Westen wolle Jelzin eine Marktwirtschaft ohne Übergangszeit, ohne Kaufkraft für Konsumgüter, ohne soziales Auffangnetz aufzwingen. Es gibt noch keine Reformen, die dem einfachen Volk nützten. So will man zwar nicht zurück zum Kommunismus, hält aber auch nichts vom Sozialismus, nicht einmal von der Sozialdemokratie ... Man will die unausstehlichen täglichen Probleme in Würde gelöst sehen und dafür arbeiten.

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