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Wohin steuert Gorbatschow ?

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Michail Gorbatschow war kaum mehr als 100 Tage im Amt, erschien auch schon die erste deutschsprachige Biographie des neuen KPdSU-Chefs. Für uns ein Anlaß, um in einer Auseinandersetzung mit diesem Werk zu versuchen, Sein und Schein der Politik des Kreml-Chefs herauszufiltern.

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Michail Gorbatschow war kaum mehr als 100 Tage im Amt, erschien auch schon die erste deutschsprachige Biographie des neuen KPdSU-Chefs. Für uns ein Anlaß, um in einer Auseinandersetzung mit diesem Werk zu versuchen, Sein und Schein der Politik des Kreml-Chefs herauszufiltern.

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Autor dieses „Schnellschusses” ist der anerkannte Osteuropa-und Sowjetexperte der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit”, Christian Schmidt-Häuer, von 1970 bis 1979 auch als ARD-Korrespondent in Wien und Moskau tätig.

„Moskau im Aufbruch” ist der Untertitel dieses Büchleins. Und gleichsam zur Bestätigung dieser Feststellung konnte die sowjetische Außenwelt vergangene Woche zur Kenntnis nehmen, in welchem Rekordtempo Gorbatschow seine Macht ausgebaut und gefestigt hatte (siehe Erhard M. Hut-ters Beitrag „Gorbatschow zeigt Format” in FURCHE Nr. 27/1985).

Westliche Beobachter der politischen Szenerie Moskaus (etwas abschätzig auch „Kreml-Astrologen” genannt) haben es immer schwergehabt. Der Blick hinter die Mauern des Kreml ist im Sowjetsystem versperrt, die wirklichen Machtverhältnisse sind nur schwer auszuloten, die politischen Entscheidungsabläufe nur schwer nachzuvollziehen.

Aus offiziellen Stellungnahmen, Zeitungsartikeln, Gesprächen mit „Insidern” muß sich der journalistische und diplomatische Beobachter sein Bild von den „wahren” Machtkonstellationen im Kreml zusammenreimen. Oft genug spielen dabei auch Spekulationen eine große Rolle, oft genug sind westliche Medienleute auch schon bewußt von sowjetischen Machtträgern ausgenützt worden, um diesem oder jenem Politiker ein positives oder negatives Image anzuhängen oder irgendeinen politischen Versuchsballon steigen zu lassen.

Nein, leicht ist dieser „Job” in Moskau nicht. Dafür aber ganz gewiß faszinierend. Und über weite Strecken faszinierend ist auch die Interpretation, die Christian Schmidt-Häuer von den Machtstrukturen im Kreml gibt.

Schmidt-Häuer zählt sicher zu den umsichtigsten Kreml-Beobachtern, die genau zuhören, wenn was gesagt wird, und die auch sehr genau die sowjetische Presse studieren. Dennoch:Nach der Lektüre seiner Gorbatschow-Biographie wird man den Eindruck nicht ganz los, daß er die Person Michail Gorbatschows etwas zu rosig malt, zumindest aber doch etwas vorschnell Urteile über den Stand und Lauf der Dinge im Sowjetimperium abgibt.

Uns scheint jedenfalls in diesem Büchlein die Beweisführung des Autors keineswegs in allen Punkten so „brillant”, daß sie die Ansicht all derjenigen widerlegt, „die das Sowjetreich noch immer als monolithisches, jeder Veränderung widerstrebendes Imperium sehen”, wie der Piper-Verlag in einer Vorstellung dieser Arbeit meint. Aber bitte...

Schmidt-Häuer ist ein zu renommierter Journalist, das Thema dieses Taschenbuches zu aktuell, die Studie selber auch zu kenntnisreich und engagiert geschrieben, daß man nur oberflächlich über sie hinweggehen könnte. Deshalb wollen wir im folgenden ein paar Kernaussagen aus Schmidt-Häuers Biographie wiedergeben und versuchen, diese kritisch, aber dennoch wohlwollend zu kommentieren.

Der „Zeit”-Journalist meint:

„Gorbatschows Aufstieg ist nicht märchenhaften Zufällen oder allein der Nibelungentreue von Andropows Saubermännern zuzuschreiben, sondern einer schon gewandelten Wirklichkeit in der Sowjetunion. Erst diese — im Westen weitgehend unbeachtet gebliebene — Veränderungen haben einen Machtwechsel ohne Beispiel in der jüngeren Sowjetgeschichte möglich gemacht.”

Welche Veränderungen sind damit gemeint? Schmidt-Häuer zählt zwei auf: den Generationswechsel und den Kampf gegen die Korruption.

Im Gegensatz zu den Parteiveteranen sei die junge Funktionärs-Elite weder von der Kriegszeit, dem Stalin-Terror, von Schuldkomplexen und Inferiori-tätsgefühlen, Bildungsmangel und Isolation geprägt, dafür aber eine skeptische Generation mit ambivalenter Haltung, tief miß-

„Kann der Umbau der Sowjetwirtschaft allein mit Schlagworten erfolgen?” trauisch, mit einer neuen Reform wieder auf einem der alten Irrwege zu landen.

Das klingt freilich auch wie eine Entschuldigung dafür, daß Gorbatschow das Wort „Reform” nicht in den Mund nimmt, dafür aber umso mehr von Ordnung und Disziplin, von Effektivitätssteigerung und Modernisierung spricht.

Starke Zweifel müssen jedenfalls angemeldet werden, ob mit diesen Schlagworten allein der „Umbau” der Sowjetwirtschaft angegangen werden kann oder ob es nicht mehr dazu braucht. Ota Sik, Minister während des Prager Frühlings, heute Wirtschaftsprofessor in St. Gallen, formuliert das so: „Ist Gorbatschow angetreten, um mit einem großen Besen mehr Disziplin und Ordnung zu schaffen, oder will er im weiteren auch die Ursachen der allgemeinen Disziplin- und Interesselosigkeit der Menschen beseitigen?”

Und was den Kampf gegen die Korruption betrifft, bei dem sich Gorbatschow ja als getreuer Gefolgsmann seines Lehrmeisters Jurij Andropow erweist: Am Beginn der Ära Andropow wurde die Disziplinierungs- und Antikorrupt ionskampagne mit Feuereifer angegangen. Ähnliches ist auch am Beginn der Ära Gorbatschow festzustellen, wo allein in der Sowjetrepublik Usbekistan seit seinem Amtsantritt 9000 Funktionäre gefeuert wurden.

Doch mehr als ein paar Monate haben Andropows Kampagnen nicht angehalten, dann sind sie versiegt, gescheitert auch am Widerstand der Bürokratien. Ob Gorbatschow mehr Erfolg haben wird, um über die starrköpfige Nomenklatura im zweiten und dritten Rang zu triumphieren, bleibt abzuwarten.

Schmidt-Häuer stellt Gorbatschows Bemühen ja selbst in einen historischen Kontext und analysiert überaus aufschlußreich:

„Um Macht und Prestige, Militärtechnik und ökonomische Leistungskraft, Gesundheits- und Schulwesen auf das Niveau des weiterentwickelten Westens anheben zu können, appellierten die Umgestalter Rußlands stets an Fleiß und Gemeinschaftssinn des Volkes (Gorbatschows aktuelle Stichworte lauten Disziplin, intensives Wirtschaften, Selbstverwaltung).

Aber alleine die Idee einer Mitbestimmung an der Gesetzgebung, an den Entscheidungen der Autokratie wurde bis in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts nie zur Diskussion und häufig genug unter Strafe gestellt. Die Folge: Ohne ausgleichenden Zuwachs an demokratischen Strukturen schwanden Macht und Elan der Autokratie in regelmäßigen Abständen.”

Die Macht der Partei ist im Sowjetreich durch Vorenthaltung demokratischer Strukturen zwar nicht geschwunden, aber sie hat sehr wohl zur Verknöcherung des Systems und zur derzeitigen wirtschaftlichen Misere entscheidend mit beigetragen.

Zwar sprach Gorbatschow in einer Grundsatzrede am 10. Dezember 1984 im „Haus für politische Aufklärung” des Moskauer Stadtsowjets, auf die Schmidt-Häuer wiederholt verweist, unter anderem von einer Modifizierung des demokratischen Zentralismus im Sinne einer differenzierteren Führung, die der Initiative von Einzelpersonen, Arbeitskollektiven und regionalen Organen Raum gibt und von einer stärkeren Betonung von Gruppeninteressen (Bauernschaft, Intelligenz, Wissenschaft, regionale Interessen).

Den Machtrahmen der Partei freilich kann und wird Gorbatschow nicht sprengen, im Gegenteil. Genau aus diesem Grund ist Gorbatschows „großem Sprung nach vorn” mit Skepsis zu begegnen, weil außerdem ein weiterer historisch vergleichender Befund Schmidt-Häuers den Nagel auf den Kopf trifft:

.Aber gerade im kausalen Zusammenhang zwischen innerem Entwicklungsrückstand und imperialem Drang, zwischen der Gleichgültigkeit der Menschen und dem totalen Anspruch der Autokratie, die sich nach Perioden der Schwäche mit gigantischem Berserkertum erneuerte, liegt die Erklärung für den unaufhaltsamen Aufstieg des Zaren-und Sowjetreichs... Rußlands Herrscher stellten die Autokratie als Ursache der sozialen Schwäche und der innenpolitischen Ohnmacht nicht in Frage, weil diese Autokratie gleichzeitig Garant der nationalen Stärke und der außenpolitischenMacht war— und die Sowjets übernahmen dieses Erbe.”

Bleibt die Frage, worauf sich der „Aufbruch in Moskau” dann letztendlich wirklich bezieht. Die Antwort Christian Schmidt-Häuers darauf:

,J)ie Männer um Gorbatschow möchten (mit vorerst unzureichenden Mitteln) in Politik umsetzen, was der sowjetische Wirtschaftstheoretiker Jewgenij Li-berman vor fast einem Vierteljahrhundert proklamiert hatte: die planmäßige Verbindung von Konsumsteigerung und Verbesserung der Produktivkräfte, die

„Den Machtrahmen der Partei kann und wird Gorbatschow nicht sprengen.”

Förderung der Leichtindustrie als Antriebskraft wirtschaftlicher Effektivität und als (inzwischen) rettender Zweig, um die Sowjetbevölkerung aus einem dramatischen technologischen Erfahrungsrückstand ins Zeitalter der Mikroprozessoren befördern zu können.”

Das sei keineswegs in Abrede gestellt. Aus den bisherigen Äußerungen Michail Gorbatschows ist eindeutig herauszulesen, daß er der Umwandlung der Sowjetunion in eine post-industrielle Gesellschaft höchste Priorität einräumt. Bedenklich ist nur das, was Milovan Djilas, Intimkenner des kommunistischen Systems, in einem im „Rheinischen Merkur” veröffentlichten Aufsatz glasklar so formuliert hat:

„Aber aus seinen Äußerungen spricht nicht die Einsicht, daß dieser Umwandlungsprozeß einen grundlegenden politischen und gesellschaftlichen Wandel verlangt. Ein solcher Wandel kann nur in Richtung Demokratisierung gehen: Die Allmacht der Bürokratie muß geschwächt werden. Modernisierung heißt unausweichlich auch Demokratisierung. Modernisierung erfordert Initiativen zur Abschaffung bürokratischer Ketten, Druckinstrumente und Monopole.”

Daß Gorbatschows Modernisierungsversuche im Wirtschaftsbereich keineswegs mit einer Liberalisierung einhergehen werden, glaubt auch Schmidt-Häuer. Er sieht den neuen KPdSU-Chef allerdings zu einer zuverlässigen

Machtabsicherung gegenüber seinen Widersachern durch eine harte Innenpolitik gezwungen, wenn er festhält:

„Robuste Karrieristen wie Gri-gorij Romanow, für die Macht und Politik ausschließlich ein Mittel zur rücksichtslosen, persönlichen Durchsetzung sind, gibt es in der jüngeren Führungselite noch genug. So werden auch Ehrgeiz, Neid und Argwohn solcher Funktionäre den neuen Parteichefzwingen, seine Reformversuche gegen Dissidenten und Westeinflüsse autoritär abzusichern.

Gorbatschows Berufung auf Lenins Konsolidierungspolitik durch Privatinitiative, Pächter-tum und Selbstverwaltung ist kein Signal für eine Liberalisierung im Sinne der vom Westen proklamierten Bürgerrechte. Auch Lenins Neue ökonomische Politik, das wird oft vergessen, verschärfte gleichzeitig die politische Kontrolle.”

Demnach stehen Bürgerrechtlern, aber auch Kulturschaffenden oder etwa religiösen Sowjetbürgern alles andere als bessere

„Bürgerrechtlern stehen demnach alles andere als bessere Zeiten bevor.”

Zeiten unter dem so dynamisch wirkenden neuen Kreml-Chef bevor.

Gewiß: Gorbatschow strebt eine Hebung des Lebensstandards für die Sowjetbürger an - ob sie sich aber mit einer materiellen Besserstellung allein begnügen werden und im Gefolge sich nicht auch etwas mehr persönlichen Freiraum erhoffen? Uberhaupt: Sind sie bereit, an Gorbatschows Modernisierungsprogramm mitzuarbeiten, wenn sie dazu mit der Knute der Disziplin gezwungen werden?

Oder scheitert Gorbatschows Bemühen um bescheidene Reformen nicht letzten Endes doch wieder da, woran auch schon frühere Reformansätze gescheitert sind: am lethargischen Gleichmut der Bevölkerung, die sich von Partei und Staat um die Früchte ihres Schaffens betrogen sieht,deshalb dem Regime eine Art passiven Widerstand im Arbeitsprozeß entgegensetzt und der Realität des tristen Alltags mit der Wodkaflasche zu entkommen versucht?

Diesen Fragen, scheint uns, widmet der Autor in seinem Werk zuwenig Aufmerksamkeit, wenngleich sie für die künftige Entwicklung bestimmt von ebensolcher Relevanz sind wie die Vorkommnisse in den Zentren der Macht, in der Nomenklatura. Dafür glaubt er, daß Washington in irgendeiner Weise beeinflussen kann, was künftig im Kreml geschieht:

„Ein Menschenalter nach der Oktoberrevolution besitzt die Sowjetunion einen Parteichef, den Erfahrung und Erkenntnis gelehrt haben, daß der letzte Garant der nationalen Sicherheit nicht die militärische, sondern die wirtschaftliche Stärke der Sowjetunion ist. Ob Gorbatschow diese Einsicht gegen die Widersacher im Kreml und im Weißen Haus langfristig in eine Politik umsetzen kann, die das Sicherheitsinteresse der Supermacht mit den Sicherheitsbedürfnissen der übrigen Welt besser als bisher ausbalancieren kann — das ist eine völlig andere Frage.”

Das dürfte selbst Ronald Reagan neu sein, daß er auf die langfristige Konzeption der sowjetischen Politik einen so bedeutenden Einfluß nehmen kann...

MICHAIL GORBATSCHOW. Moskau im Aufbruch. Von Christian Schmidt-Häuer. Mit einem Essay von Maria Huber. Serie Piper, Band 467, Piper-Verlag, München-Zürich 1985.198 Seiten, TB.. S 76,50.

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