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Wohlfahrts- oder Versicherungsstaat ?

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Das zu Ende gehende Arbeitsjahr gibt Anlaß zu einem Überblick über die wichtigsten Probleme, die die Öffentlichkeit augenblicklich beschäftigen. Aus der Fülle seien drei herausgegriffen: die Währungsfragen (die nicht nur auf Europa beschränkt sind), die Integrationsproblematik und die sogenannte politische Entspannung.

Die Währungsschwierigkeiten, vor allem die ständig schleichende Inflation, geht unter anderem auf das Ende der durch das Abkommen von Bretton Woods gekennzeichneten Periode zurück.

Steigende Produktion und steigender Handel bedingen automatisch einen größeren Geldumlauf. So kam es gegen Ende der sechziger Jahre dazu, daß gegen den Geist wie auch gegen den Wortlaut des Abkommens von Bretton Woods Paritätenänderungen immer dringlicher und schließlich unerläßlich wurden.

Parallel mit dieser Entwicklung und hervorgerufen durch den konjunkturellen Aufschwung ging die Kostenexplosion in allen Industriestaaten, die auch die innere Kaufkraft der Währungen in einem sehr bedenklichen Ausmaße verminderte und noch immer vermindert. Das aber bedingt wiederum, daß die klassischen Instrumente der Notenbanken heute weitgehend an Wirksamkeit eingebüßt haben. Heute bestimmt die Politik der Gewerkschaften weitgehend den Grad der inflationären Entwicklung. Dazu kommt die Verteuerung der Rohstoffe, ein Problem, das eng mit dem Problem der Entwicklungsländer verknüpft ist, deren Weg zu besseren wirtschaftlichen Verhältnissen zu einem wesentlichen Teil auch über die Erhöhung der Rohstoffpreise gegangen werden muß.

Ein drittes Problem in diesem Zusammenhang ist das Phänomen der Expansion. Die Ausweitung der Kapazitäten aller Industrieunternehmungen, vielfach auch bedingt durch Rentabilitätspostulate, ist heute in den meisten Industriestaaten beinahe zu einem Fetisch geworden, der bereits anfängt, uns zu zeigen, daß Kapazitätenausweitung, auch wenn sie zunächst aus Rentabilitätsgründen gemacht wurde, sehr oft zu einer Verminderung der Rentabilitäten führen.

Aber auch die öffentliche Hand liefert reichlich Brennstoff für das schwelende Inflationsfeuer. Immer größer wird das Bedürfnis der Regierungen, durch immer neue und zusätzliche Staatsausgaben den Geldbedarf zu vergrößern. Die Entwicklung vom Wohlfahrts- zum Versicherungsstaat macht bedenkliche Fortschritte.

Einen anderen Problemkreis stellt die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft dar. Hier dürfen Fortschritte verzeichnet werden. Die Beitrittsverfahren Großbritanniens, Norwegens, Dänemarks und Irlands werden, wenn nicht alle Zeichen trügen, heuer noch ebenso zum Abschluß kommen, wie die Verträge mit den Rest-EFTA-Staaten, vor allem mit den drei Neutralen. Daß die von den Europäischen Gemeinschaften den Neutralen angebotene Freihandelszone mit ihren zeitlich wesentlich verzögerten, besonders für Österreich unangenehmen Ausnahmen und dem Ausschluß der Landwirtschaft nicht restlos befriedigend ist, ist oft genug dargestellt worden und bildet im Augenblick auch noch den Gegenstand von Verhandlungen. Abgesehen davon ist jedoch die Tatsache, daß es nun zur Bereinigung der westeuropäischen Wirtschaftsbeziehungen kommen wird, nicht hoch genug einzuschätzen. Der vielfach zitierte wirtschaftliche Graben durch Westeuropa wird zugeschüttet, wenn auch die Wege darüber keineswegs schon als vollständig geebnet anzusehen sind. Immerhin aber ist der Grundstein für ein wirtschaftlich kooperierendes Westeuropa nun gelegt und nicht mehr nur die sechs, sondern alle westeuropäischen Staaten werden nun an den Vorteilen eines Großwirtschaftsraumes teilhaben.

Für Österreich, dessen wirtschaftliche Beziehungen zu den Sechs schon immer die bedeutendsten gewesen sind, bleibt weiterhin die Aufgabe bestehen, Mittel und Wege zu suchen, den vorgesehenen langen Zeitraum für die Einbeziehung der sogenannten sensiblen Produkte (vor allem Papier und Stahl) möglichst zu verkürzen und vor allem auch der österreichischen Landwirtschaft eine echte Teilnahme an der Wirtschaftsintegration zu ermöglichen. Daß dies allerdings nur möglich sein kann, wenn die österreichische Agrar-marktordnung harmonisiert wird, hat sich hoffentlich schon in allen Beteiligtenkreisen genügend herumgesprochen.

Dem westeuropäischen Wirtschaftsraum steht der östliche Integrationsbereich, das COMECON, gegenüber. Auch dieser Bereich wird trotz anders gelagerter Grundlage als Großwirtschaftsraum zu bezeichnen sein, und es kann mit Sicherheit erwartet werden, daß sich daraus auch ein wesentlich verstärkter Wirtschaftsverkehr zwischen West und Ost entwickeln wird. Auch das ist für Österreich, das — von Finnland abgesehen — die höchste Außenhandelsquote mit den Oststaaten hat, von besonderer Bedeutung.

Es ist bekannt, daß die Sowjetunion und ihre Verbündeten seit ungefähr zwei Jahren die Abhaltung einer europäischen Sicherheitskonferenz vorschlagen, an der auch die Vereinigten Staaten von Amerika teilnehmen sollen. War es bisher unklar, welchen konkreten Inhalt eine solche internationale Veranstaltung haben sollte, so beginnen sich auch diesbezüglich die Verhältnisse stärker zu profilieren. Die bloße Anerkennung des politischen Status quo in Europa wäre, insbesondere nach Ratifizierung der deutschen Ostverträge, für eine solche Konferenz kaum mehr als ausreichend befunden worden. Nun ist in letzter Zeit eine verstärkte sowjetische Initiative dergestalt festzustellen, daß man als unerläßliche Voraussetzung und Ergänzung einer echten Entspannungspolitik auch den Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen West und Ost, gemeinsame Aktionen auf dem Gebiete des Umweltschutzes, europäische Verkehrsplanung und eine gemeinsame europäische Energieversorgung nennt. Daß sich alle diese Probleme zu einer Zusammenarbeit zwischen West und Ost eignen, steht außer Frage. Und es kann angenommen werden, daß die sogenannte Sicherheitskonferenz ein großes Arbeitsprogramm vorfinden wird.

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