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Wohlgenährt nach Liebe hungrig...

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Szene in einem Wiener Straßenbahnzug: Im überfüllten Wagen ein Schulkind, etwa zwölf Jahre alt, klein, dick. Übergewichtig. In der Hand hält es zwei Tafeln Schokolade und Bonbons. Nach zehn Minuten steht es auf. Schokolade und Bonbons sind aufgegessen. Das typische Frühstück eines Wiener Schulkindes?

Ein übertriebener Einzelfall vielleicht. Aber: ein Symptom. Mit der Ernährung unserer Kinder ist vieles nicht in Ordnung. Jedes zweite Pflichtschulkind neigt zur „Übergewichtigkeit“, jedes fünfte „ist fettsüchtig“. Fälle mit einem Übergewicht bis zu 60 Prozent sind nicht mehr so selten. Wohlstandskinder als Dickerchen, als schokoladeessende, colatrinkende „Erfolgsgeneration“ der neunziger Jahre?

Das Gesundheitsministerium hat vor wenigen Wochen eine Studie über die Ernährungsgewohnheiten der Österreicher veröffentlicht. Die traurige Bilanz: Wir essen zu viel. Mit 3000 Kalorien am Tag sogar um mehr als zwanzig Prozent zu viel.

Bei den Kindern ist das Ganze noch krasser: Nur siebzig Prozent der Wiener Schulkinder nehmen das sogenannte Standardfrühstück (Kakao oder Milch mit Gebäck) zu sich, zehn Prozent frühstücken überhaupt nicht, der Rest lutscht Süßigkeiten. 29 Prozent der Schulkinder geben Mehlspeisen als Lieblingsgericht (Hauptspeise) an, 55 Prozent der österreichischen Schulkinder leiden an Unterversorgung mit wichtigen Vitaminen: Weil sie zuviele Kohlehydrate (sprich Süßigkeiten) essen.

Die Schatten des Wirtschafts- und Konsumwachstums: In den Entwicklungsländern der Dritten Welt hungern die Kinder, bei uns erkranken sie an Überernährung.

Psychologen sehen in dieser „Freßsucht“ vieler Kinder die „Reak-

tion auf eine zunehmende Reizüberfütterung von außen“ oder die „Kompensation einer zunehmenden Leere und Interesselosigkeit“.

Dazu kommen noch die sozialen Hintergründe: Die meisten Eltern sind berufstätig, die Zeit für „ein gemütliches Essen mit der Familie“ bleibt nicht mehr. Den Kindern wird einfach ein Geldstück in die Hand gedrückt.

Die Folgeerscheinungen: Haltungsschäden, Wirbelsäulenverkrümmungen, Verkümmerung der Muskulatur, Erhöhung des Blutzuk-kerspiegels.

Daneben die psychischen Auswirkungen: Der familiäre Kontakt fehlt weitestgehend (in Österreich ist die Zahl der Schlüsselkinder überdurchschnittlich hoch). Kindliche Depressionen steigen. „In letzter Zeit ist der Anteil der Kinder, die in verhaltenstherapeutische Behandlung kommen, um mehr als 200 Prozent gestiegen“, erklärt eine Wiener Verhaltenstherapeutin.

Der Leistungsdruck steigt: Nach einer bundesdeutschen Untersuchung ist das „Wissens- und Reizangebot für Schulkinder um mehr als das Vierfache gestiegen“, schulpsychologische Beratungsstellen sind „regelrecht überlaufen“. Die meisten Eltern sind ratlos. Die Kinder verkraften die Leistungszwänge nicht mehr: Schule, Medien, Umwelt werden zu immer größeren Belastungen. „Verstärkte Konsumwut ist ein scheinbarer Ausweg aus dem Dilemma“, so ein Wiener Psychoanalytiker.

Die Kehrseite der Wohlstandsmedaille: Überforderte Kinder, die mit psychosomatischen Krankheiten reagieren, die apathisch werden, interesselos, sich nur noch für wenige Dinge begeistern können.

Dazu die Konsumindustrie, die permanent Bedürfnisse für Kinder

produziert: In kaum einer Branche hat es (eine deutsche Untersuchung) „derart starke Expansionsbestrebungen gegeben wie in der Unterhal-tungs- und Spielwarenbranche“.

Im erzieherischen Bewußtsein hat sich der materielle Reichtum noch nicht niedergeschlagen: „Da geht es oft zu wie im Mittelalter“, meint der Wiener Psychoanalytiker Günther Pernhaupt. Er hat zusammen mit einigen Kollegen eine Studie über Erziehung in Österreich herausgegeben.

Das Resultat: teilweise alarmierend. „13 Prozent der Österreicher sprechen der körperlichen Züchtigung absolut und 23 Prozent fallweise das Wort.“ Jeder siebte Österreicher steht der „Züchtigung positiv gegenüber, auch wenn dabei Verletzungsgefahr besteht“. 83 Prozent unserer Landsleute orten das „Wesen der Erziehung im Erlernen des Verzichtenkönnens.“ 58 Prozent der Eltern wollen für ihre Kinder die absolute Autorität sein.

Die überfütterten Kinder, die noch „erzogen werden wie vor zwanzig, dreißig Jahren: Ein düsteres Bild in der Wachstumseuphorie. Psychologen, Ärzte und Lehrer predigen immer wieder von einem einfacheren Leben für die Kinder. Von „Liebe statt Hiebe“. Von intensiverem Kontakt der Eltern mit ihren Kindern. Von neuen, besseren Erziehungsmethoden. Von weniger materiellen Angeboten und einem Mehr an geistiger, emotioneller Auseinandersetzung. Von adäquateren Lehrplänen.

Ansätze sind vorhanden: Bei Eltern, die sich weigern, ihre Kinder permanent zu überfordern, die sich bewußt zusammenschließen und gemeinsam einen Teil ihrer Freizeit den Kindern widmen.

Nur so kann die „innere Armut“ überwunden werden.

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