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Wohlstandsdiktatur, das Modell Schweden

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Während eine kurz vor Ostern ausgegebene Meldung der deutschen Nachrichtenagentur über die Unan-bringlichkeit eines Akademikerüberschusses in Schweden die andernorts anhängige Diskussion über Bildungsreform oder -revolution neu akzentuiert, erregt ein Buch des Skandinavien-Korrespondenten des Londoner Observer, Roland Huntford, über die schwedische Form einer „Wohlstandsdiktatur“ diesseits und jenseits des Atlantiks die Gemüter. Hunter, Jahrgang 1928, unbelastet von dem Verdacht des Neofaschismus oder Neomarxismus, resümiert nicht mehr und nicht weniger, als daß in Schweden eine „kleine Minderheit“ das Land regiere und in der Lage sei, ein „totalitäres Herrschaftssystem“ ungestört auszubauen. Von anderen Mitteln abgesehen, würden die von dem herrschenden Regime eingeräumten sexuellen Freiheiten benützt, um die allgemeine Aufmerksamkeit von der wachsenden Apparatabhängigkeit abzulenken und einer neuen Form des Totalita-

rismus Bahn zu schaffen. Die Einwände gegen eine solche Generalisierung eines „Phänomens am Rande“ scheinen auf der Hand zu liegen:

Schweden ist in seiner Fortschrittlichkeit nach dem Kriege amerikanischer als die USA geworden. Individueller Wohlstand, gesicherte Existenz vom Kindes- bis ins Greisenalter, moderne ärztliche Versorgung, „Bildungsexplosion“ als Treibladung einer ungehemmten höheren und Hochschulbildung markieren nahezu erreichte Ziele, die gerade hierzulande einem mächtigen Nachahmungstrieb politische Möglichkeiten gegeben haben. Neben der religiösen ist es vor allem eine sexuelle Emanzipation, deren Grad von einzelnen schwedischen Publizisten als tatsächlicher Grad der in der freien Welt erreichbaren Freiheit gewertet wird.

An diesem Punkt hakt die These des Autors ein: Die sexuellen Freiheiten werden vom herrschenden Regime als Mittel zur Manipulation

benützt. Die Tatsache, daß in dieser Hinsicht dem Staatsbürger eine bisher nie und nirgendwo gekannte Promiskuität eingeräumt wird, erzeugt quasi das Gefühl, in einem Staat zu leben, der dem Individualismus des Einzelnen keine Grenzen mehr setzt. Indem dieser Einzelne sieht, daß individuelle Armut beseitigt, Vollbeschäftigung scheinbar kein Problem mehr ist, der Lebensstandard eine nie gekannte Höhe erreicht und das Wirtschaftswachstum seit Jahren mehr keine Rückschläge erlitten hat, verzichtet er mehr und mehr, den Preis zu kalkulieren, den er — von der wachsenden Steuerlast abgesehen — für dieses Experiment zahlen muß: Indem jahrelang von Schweden als dem Land mit hoher oder höchster Rate der Selbstmorde gesprochen wurde (derzeit 2,3 Prozent pro 10.000 Einwohner, das ist ein „dritter Rang“) wurde übersehen, daß der vom Autor aufgezeigte Defl-zitärbestand dieses Wohlfahrtsstaates par excellence nicht in diesen unerwünschten Negativeffekten zu suchen ist, sondern in der geplanten Fabrikation eines neuen Menschen:

Ein privates „Komitee für soziale Angelegenheiten“ hat die Möglichkeit, ein Kind der Erziehung im Elternhaus zu entziehen. Indem dieses Komitee mit seinem Verfahren recht bekommt, kann es geschehen, daß ein Kind den natürlichen Eltern entzogen und irgendeiner als „tauglich“ befundenen Person übergeben wird. Tauglich ist, wer der herrschenden Mentalität und Ersatzethik, gemessen an den Normen sozialistischen Denkens, entspricht. Ein staatliches Schulmonopol, das die Privatschulen nicht kennt, stellt das Kind von frühester Jugend an auf die Laufbahn einer „Progressiven Education“ schwedischer Prägung und damit unter die politische Parole: Wer die Jugend hat, dem gehört die Zukunft. Aller Terror in kommunistischen Staaten kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Experiment eines Lebens ohne Gott in Schweden viel weiter gediehen ist als in großen Teilen des „atheistischen Ostens“. Was vor 30 Jahren der Kinsey-Report in den USA anbahnte, ist in Schweden eine Realität: der therapeutische Effekt des Geschlechtsverkehrs wird jenem puncto Essen und Trinken gleichgesetzt und in den staatlichen Einheitsschulen mit einer Brutalität gelehrt, der die seinerzeitigen Urheber der „sexuellen Revolution“ heute vielfach erschreckt.

Am 16. September dieses Jahres wird der schwedische Reichstag neu gewählt. Ob bis zu diesem Zeitpunkt die Massen die verschiedenen seelischen Vakua schon so bewußt verspüren werden, daß daraus Wahlentscheidungen zu Ungunsten des herrschenden sozialistischen Regimes erwachsen, ist die Frage. Wenn Roland Huntfort nicht mit gefärbten Brillen sah und darnach schrieb, dann wird sich aber auch aus

dem „unbewußten Unbehagen“ eine Wende anbahnen.

Gleichviel, was der Leser für Österreich in Nachahmung des schwedischen Modells will: Wer von dem „Wunder aus dem Norden“ redet oder darnach Politik macht, sollte das Buch lesen.

WOHLFAHRTSDIKTATUR - — DAS SCHWEDISCHE MODELL. Von Roland Huntfort. Verlag Ullstein, Berlin 1973, 304 Seiten.

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