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Wort und Zauber

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Eine Gruppe von Menschen in einem Raum des Salzburger Bildungshauses St. Virgil: Hausfrauen, Mütter, Lehrer, Kindergärtnerinnen, Studenten, Pfarrer, alle Alters- und Berufsgruppen sind vertreten. Sie kommen aus allen Teilen des Landes, oft von weither.

Eine mittelgroße Frau kommt herein. Was auffällt, sind ihre sprechenden braunen Augen, ist ihre ruhige Aufmerksamkeit. Sie bittet die Teilnehmer, sich in einem Kreis zu setzen, setzt sich zu ihnen, fragt: '

„Weshalb sind Sie gekommen?“ Ein Blick in die Runde, der jedem gilt, geduldig und ermutigend zugleich. Ein junges Mädchen beginnt: „Ich habe als Kind Märchen sehr geliebt und irgendwann den Zugang zu ihnen verloren. Und jetzt..Sie bricht ab, lächelt und sagt: „Ich bin einfach neugierig.“

„Ich lese gern Märchen“, sagt eine Lehrerin, „viele meiner Bekannten lachen mich deshalb aus.“

Eine dritte schreibt eine wissenschaftliche Arbeit über Märchen und möchte in diesem dreitägigen Seminar die Märchen „von einer anderen Seite kennenlernen“.

„Ich war schon zweimal in so einem Seminar“, sagt ein Lehrer, „und jedesmal sind Türen in mir aufgegangen, auf wohltuende und befreiende Weise.“

Felicitas Betz wendet sich an die Teilnehmerin mit der wissenschaftlichen Arbeit und sagt:

„Sie werden keine Märchen-Analysen von mir hören. Die Bilder der Märchen, die viele Deutungen zulassen, machen ihren Reichtum aus. Ich möchte, daß jeder von Ihnen seinen eigenen Zugang zum Märchen findet. Ich werde Ihnen jeden Tag das gleiche Märchen erzählen ...“

Die zum ersten Mal da sind, sehen sich enttäuscht an. Die schon öfter dabei waren, nicken sich zu, freuen sich und wissen warum. Noch immer hat jeder die Erfahrung gemacht, daß er das gleiche Märchen beim ersten Erzählen anders gehört hat als beim zweiten, dritten, vierten - bei immer den gleichen Worten wurden immer neue Türen aufgeschlossen, immer neue Innenräume frei.

Entspannen und das Gleichgewicht finden: Bei der ersten Imaginationsübung spürt man — und es wird später auch darüber gesprochen —, wie schwer sie den meisten fällt. Fast jeder ist „auf Leistung getrimmt“, auf „präsent sein“, auf Wettbewerb und Konkurrenzfähigkeit. All das erscheint bereits am Abend des ersten Tages in einem ganz anderen Licht. Man gewinnt Abstand, wird gelassener, kommt zur Ruhe.

Nach der Übung ist fast jeder bereit, über das, was er in dieser Stille erfahren, geschaut, erlebt hat, etwas zu sagen, die anderen teilhaben zu lassen am eigenen Erleben: ein Vertrauensbeweis.

Das Wort, das der Übung zugrunde lag, hieß „Schlüssel“ und wird im Sinne des Wortes zum „Schlüsselwort“. Nun ist er nicht ausschließlich ein metallener nützlicher Gegenstand zum Auf-und Zusperren von Haus- und Garagentür — das ist er auch -, sondern weit mehr. Von dieser Funktion abgesehen, besitzt der Schlüssel etwas, was Sinn büdet, er wird zum Sinn-Bild der Macht und Verantwortung: Zugang haben zu Korn- und Getreidespeichern, zu Schatzkammern, Truhen und Kästen. Wer die Schlüsselgewalt hat, hat viel in Händen. Uber greif- und sichtbare Schätze hinaus vermag ein Schlüssel aber auch Innenbereiche zu erschließen. Mit Zuneigung und Liebe können Herzbereiche eines Menschen erschlossen, mit Abneigung und Abkehr versperrt werden. Beides ist möglich: wegsperren und Zutritt verwehren ,der öffnen und Eintritt ermöglichen.

Im Austausch werden die Erlebnisse vieler verschiedener Menschen zu einem Gemeinschaftserlebnis. Jetzt sind sie aufgeschlossen für das Märchen.

Ein gelesenes Märchen ist etwas völlig anderes als ein erzähltes. Es muß — auch — an der Zuwendung des Erzählers liegen. Es muß daran liegen, daß der Erzähler sich Zeit nimmt, für den Hörer da ist, zu keinem anderen Zweck, als ihm etwas zu erzählen. Erst im gesprochenen Wort entläßt das Märchen seinen Zauber. Durch die Jahrhunderte müssen das in allen Völkern die Generationen „gewußt“ haben, sonst wären uns keine Märchen in dieser Fülle überliefert worden.

Wenn Felicitas Betz Märchen erzählt, sieht man den Zuhörern an, daß sie „aus der Zeit sind“, aber nicht ins Bodenlose gestürzt, sondern wurzelnd in einem Grund, aus dem sie Kraft ziehen können.

Die Bildsprache der Märchen ist aus der Schau des Wesens entstanden, das den Dingen innewohnt. Die auslösenden Reize, die im Erzählen wach werden, laufen über die Büder in bewußte und unbewußte Seelenschichten der Hörer, die Bilder vermitteln Einsicht in ihren Ursprung und damit Einsicht in Weltgeschehen. Das alles „weiß“ man nicht, wenn man Felicitas Betz zuhört. Es ist schwer, zu beschreiben, wie sie das macht. Man muß es erlebt haben.

Sie sitzt sehr aufrecht, aber entspannt. Sie beginnt aus einer spürbaren Stille. Ihre modulationsfähige Stimme hat ihre eigenen Gesetze. Sonst eher verhalten, steigert sie sich, wenn das Geschehen auf einen Höhepunkt zueilt, wird schneller, eindringlicher. Bilder werden nicht nur sichtbar, sondern lebendig; Menschen, Tiere, Bäume, Geister und die Elemente, alles lebt. Die Zuhörer werden zu Kindern, lauschen regungslos, durchschauen die Märchenbüder auf ihre elementare Wirklichkeit. Das alles geschieht während des Zuhörens unbewußt, und ob es danach ins Bewußtsein tritt oder nicht, spielt keine Rolle.

Im Erfahrungsaustausch und Gespräch lernen die Teilnehmer voneinander, begreifen, warum heute so viele Menschen einen Zugang zum Märchen suchen.

„Unser begriffliches Denken klammert Bilder mehr und mehr aus“, sagt Felicitas Betz, „die Seele, die im .schauenden Denken“ lebt, ist ohne Nahrung und verkümmert mehr und mehr.“

„Und das alles bei der Bilderüberschwemmung des Fernsehens“, kommentiert ein Teilnehmer und wird von allen verstanden: Märchen versammeln die inneren Kräfte, das Fernsehen überschwemmt und zerstreut sie.

„Jetzt laß“ ich mich gerne auslachen“, sagt die junge Lehrerin, „und werde weiter Märchen lesen und vor allem erzählen üben.“ Vielen ist jetzt klar geworden, daß unser begriffliches Denken nicht alles sein darf, daß die Bild- und Symbolsprache im Märchen Türen öffnet und mit den Türen neue Zugänge zu neuen Räumen. Wie beim Schlüssel begreifen sie, daß auch eine Tür mehr ist als ein von Menschenhand gefertigter Gegenstand, daß diese Tür öffnen und schließen kann, Schutz oder Aussperrung bewirken, daß sie Schwellenangst provozieren kann und ihre Uberwindung, Grenzübertritt und Ubergang von Raum zu Raum.

„Wie geht denn das?“ frage ich Felicitas Betz in einer Pause, „wie sind Sie überhaupt darauf gekommen? Das muß ja irgendwann einmal angefangen haben.“

„Verhältnismäßig spät“, sagt sie. Man würde es dieser jugendlich wirkenden Frau nicht zutrauen, aber sie hat acht Kinder, dürfte also auf lange Zeit sehr beansprucht gewesen sein.

Im Jahre 1970 lernte sie die Schauspielerin und Erzählerin Vilma Mönkeberg kennen. Diese hatte an der Hamburger Universität eine Dozentur. Bei ihr hat Felicitas Betz drei Jahre gelernt. An dem Tag, an dem sie sie kennenlernte und das erste Mal hörte, ging es ihr nicht gut, danach war sie nicht mehr deprimiert, sondern animiert und froh.

„Das Märchen hatte seine Heilkraft bewiesen. Das wollte ich weitergeben.“

.Aber bis es so weit war, mußten Sie doch viel arbeiten.“

Das bestätigt sie. Es ist wie bei allem, was locker und scheinbar spielerisch vermittelt wird. Bevor es so weit ist, muß gearbeitet werden. Wenn man daran denkt, daß Felicitas Betz rund hundert Märchen aus allen Völkern der Erde auswendig weiß — das stimmt schon nicht ganz: in-wendig müßte man sagen, „Par cceur“. Und weil sie von innen und von Herzen kommen, gehen sie nach innen und zu Herzen.

Frau Betz hat zwei verschiedene Arbeitsweisen. Sie veranstaltet Seminare, aber auch „nur“ Abende, an denen sie Märchen erzählt. Ihre Seminare im deutschsprachigen Raum sind ausgebucht. Wer mittun möchte, tut gut daran, sich rechtzeitig anzumelden. Wer einmal bei einem Erzähl-Abend dabei war, sagt es weiter und ist beim nächsten Mal wieder dabei, ein Zeichen dafür, wie notwendig es für viele Menschen ist, wieder Zugang zu den Märchen zu finden, wieder zu den Quellen zu gehen.

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