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Worte über den Abgrund

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Manchmal geht ohne äußeren Anlaß eine Veränderung durch ihr Gesicht, die faltige Haut glättet sich von innen her, die strengen Linien werden weich. Ich weiß, daß sie dann ein starkes Gefühl erlebt, aber ich wage nicht, sie zu fragen, was es ist und wie sie dazu steht, ob sie es mühsam erträgt oder ob sie sich wohlfühlt damit.

Vielleicht ist es eine Aufwallung ihrer Zärtlichkeit, die sie zurückhält, weil ich so erwachsen und unnahbar bin, vielleicht ein Schmerz, dessen sie sich schämt, vielleicht auch eine unzerlegbare Mischung von Gefühlen, mit der sie schweigend neben mir lebt, weil ich so heillos vernarrt ins Denken bin und zum Unterschied von ihr ausführlich reden kann über die Trampelpfade hinter der Stirn, die geschmückt und verschandelt sind mit Verschwiegenem, Ängsten, für die man zu erwachsen ist, Unlauterkeiten, wenn man bei jedem jeweils über den anderen schimpft, heimlichen Überwindungen, an denen die Liebe gewachsen ist und noch wächst; wie oft man schweigt, um nicht mißverstanden zu werden, und wie oft man schweigt, um nicht verstanden zu werden, das große Los auch, das man einmal bewußt nicht gezogen hat, die Fehler, die man nicht voreilig bekennen will, weil die Folgen noch ausstehen und vielleicht sogar ausbleiben, wie oft man etwas nicht sagt, weil es Wasser auf die Mühlen des anderen wäre, und die Angst, die man ihm abgenommen hat dadurch, daß man bei ihm blieb, jederzeit konnte man auf seine Frage “Hast du Angst?“ antworten “Nein, es bist ja du bei mir“, das mußte er glauben, weil es genau das Argument war, das er selbst verwendet hatte, und ob jemals jeder wußte, wieviel Angst der andere wirklich hatte, war egal, man konnte j a zurückdenken, man konnte sich an eine Angst, die man eindeutig nicht mehr hatte, erinnern, konnte einen Vergleich ziehen und den Erfolg verbuchen, und mancher Wunschtraum schwang sich, als Erinnerung verkleidet, in jener Zeit dem stotternden Gedächtnis auf die Lippen und beharrte “Ich lasse dich nicht, du erzähltest mich denn“, wie jener vom entbehrlichen Schutzengel.

In einer besonders dämmrigen Kirche, in der ich mich während meiner Hauptschulzeit auch ohne zu beten gern aufhielt, weil die Vergoldungen und die überlebensgroßen Heiligenfiguren in jenem spärlichen Licht geheimnisvoller wirkten als die im lichteren Dom, sprach mich einmal der Prior an, vielleicht weil er bemerkt hatte, daß ich immer wieder in der leeren Kirche umherging oder endlos in einem Winkel stand und schaute. Auf seine Frage, ob es mir hier gefiele, sagte ich “Ja, es istgenausowie imTröp- ferlbad“, rannte davon, heißkalt durchrieselt von Scham und Entsetzen, und fand meine Seelenruhe erst wieder, nachdem ich den Prior erreicht und ihm den sakrilegischen Satz erklärt hatte.

In der Kirche war damals, sooft ich sie betrat, mindestens ein Beichtstuhl besetzt, sodaß in mir der Eindruck entstand, hier könne man jederzeit beichten. Das erwähnte Tröpferlbad kannte ich monatelang nur aus den Schilderungen meines Onkels, weil es renoviert wurde, und als er mich endlich zum erstenmal dorthin mitnahm, beeindruckten mich die Öffnungszeiten mehr als die weiß gekachelten Duschkabinen. Offiziell konnte man von sieben bis neunzehn Uhr duschen kommen, aber Schichtarbeiter der Firma, bei der mein Onkel beschäftigt war, durften bereits um sechs Uhr kommen, und erst um dreiundzwanzig Uhr mußte der letzte das Bad verlassen haben.

Ich habe immer an das Wunder, daß man verstanden werden kann, geglaubt, und es nicht nur für mög lieh gehalten, sondern als etwas angesehen, was unter bestimmten Bedingungen zwangsläufig eintritt.

Christus wurde “das Wort“ genannt, und es war sein Schicksal, nicht verstanden zu werden. Er nahm Gleichnisse zuhilfe, um sich verständlich zu machen, und mußte auch diese eigens erklären. Jene, die über ihn schrieben, taten das mit persönlichen Motiven und jeweils nach ihrem eigenen Verständnis, ein Kosmos von Schriften bewegt sich seither erklärend und interpretierend run jene Erklärungen und Interpretationen, wobei die Auffassungen weder zeitlich noch räumlich jemals einheitlich waren, und unzählige Menschen erforschen diese Schriften nach ihrem eigenen Verständnis, um jenes “Wortes“ habhaft zu werden, wobei es immer wieder vorkommt, daß jemand aus dem Dickicht dieser Erklärungen zu Erklärungen von Erklärungen heraus tritt und erklärt, er habe verstanden, das ist noch nicht das Wunder, nur etwas Phänomenales, das Wunder ist, daß in den Reihen der Fündiggewordenen immer wieder einzelne so leben und sterben, daß sich die Frage, ob sie auch richtig verstanden haben, erübrigt.

Mich zu verstehen, ist viel weniger wichtig und nicht halb so ergiebig, ich wäre nie fähig, restlos verstanden werden zu wollen, in meinem Mund ist ein Netz gespannt, durch das nur kleine Fische schlüpfen können, hinaus in die gefahrvolle Freiheit, die großen rumoren dahinter, schöne und schreckliche, und das Korallenriff des Schweigens schützt ein verletzliches Atoll. Irgendwo liegen, zusammengekehrt wie in Häufchen Mist, Wunschträume und Wünsche in mir, die für mich selbst so entsetzlich waren, daß ich oft darum gebetet habe, sie mögen sich nie erfüllen. Darüber liegt Sand, eine Schicht, die angewachsen ist mit den Jahren, etwas hat darin Wurzeln geschlagen und blüht, und ich stelle mir das Schreckliche verwandelt vor, als Humus. Ich kann nicht entscheiden, welchen Namen ich dem Gewächs geben soll und welche Farbe denBlüten, oder doch, jetzt ist etwas da: Clematis, und die Blüten sind violett. Und wieder decke ich damit etwas zu, nehme ein Bild zuhilfe, etwas Lautloses, und eine Pflanze, die sich nicht von der Stelle bewegt. ,

Aus dem in Arbeit befindlichen Roman “Andeutungen eines lebendigen Menschen“, der im Verlag Styria, Graz, erscheinen wird.

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