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Wozu diese Klassiker ?

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Vor 150 Jahren ist Goethe gestorben, und die Erinnerung kehrt zu seinen Schriften und Taten zurück, doch werden die vielen Veranstaltungen des Goethe-Jahres von einem leisen, aber nicht überhörbaren Murren begleitet. Goethe, der Hehre und Holde — so raunt es am Rande der Feste — Goethe der Olympiker, wozu brauchen wir den noch? Was hat er uns Heutigen denn zu sagen? Was wollen sie in unserer Welt, diese Klassiker mit ihren Büsten und prächtig gebundenen Büchern?

Die da so murmeln und grinsen, spöttisch stöhnen oder nach einer Gelegenheit suchen, eine kleine hübsche Beschimpfung des Weimarer Autors bei Gelegenheit anzubringen, sind nicht nur die Schreiber der Sensationspresse, deren Brot es ist, alles Mögliche und Unmögliche in der Luft zu zerreißen, nicht nur die Däumlinge des Geistes aus dem Kreise der Schickeria und die grimmigen Verfechter von scheinbar progressiven, in Wirklichkeit aber bloß albernen — allerdings philosophisch instrumentierten—Ideologien, sondern auch durchaus ehrenwerte, wohlwollende, denkende Menschen, die sich an die Langeweile öder Unterrichtsstunden und an das hohle Pathos mancher Theaterabende erinnern.

Und in der Tat haben sich am Werk jener unruhigen schöpferischen Geister, die wir Klassiker nennen — und die wir mit Hans Weigel auch „evergreens" nennen könnten - so manche Festredner und dem Wesen der Literatur verständnislos gegenüberstehende Schulmeister versündigt, und zwar seit Generationen. Sie haben die lebendigen menschlichen Gestalten von Goethe und Schiller, von Grülparzer und Adalbert Stifter in starre Denkmäler verwandelt und durch pompöse Kränze und trockene Analysen den Zugang zum wahren Sinn all der literarisch verdichteten Einsichten, Leiden, Träume und Visionen der großen Einsamen versperrt. Es ist uns heutigen Literaten gar nicht leicht, mit den Folgen des unter dem Namen „Klassikerpflege" sattsam bekannten Totenkultes fertigzuwerden.

Den wohlmeinenden Lobeshymnikern haben sich allerdings in neuerer Zeit die Denkmalstürmer angeschlossen, die berufsmäßigen Tabuzertrümmerer und angeblich wissenschaftliche Neudeuter, die ihre armen Opfer so lange neudeuten, bis sie ihnen auch noch den letzten Rest von Bedeutung genommen haben. Diese Fanatiker des Nichts halten es für ihre heilige Verpflichtung, die gewachsene Kultur dieser letzten 5000 Jahre gleichsam außer Kraft zu setzen und also auch die sogenannten Klassiker im nachhinein zu liquidieren.

Der Schaden, den sie anrichten, ist beträchtlich. Denn die schöpferischen Geister werden diese ohne flackernden Scheiterhaufen stattfindende Bücherverbrennung zwar überleben, aber die wahren Leidtragenden des Autodafe, die Jungen und Jüngsten, werden es schwerhaben, sich — der zusammengetragenen Erkenntnisse all der guten Denker beraubt - in diesem fürwahr labyrinthischen Dasein selbständig zurechtzufinden.

Goethe und Schiller, Grülparzer und Stifter, Homer und Horaz, Dante und Shakespeare, Moliere und sogar solche halbtotgeglaubte Autoren wie Klopstock, Wieland und Tieck sind geistige Energiequellen, für unsere Kultur genauso wichtig wie für unsere Wirtschaft das Rohöl, das wir schließlich ebenfalls aus dem einstigen Leben längst toter und verschütteter Organismen gewinnen.

Ein Mathematiker, der Universitätsprofessor Gerhard Schwö-diauer, hat erst kürzlich die Summe jener brauchbaren Informationen berechnet, die wir in Form zeitgemäßer Tradition zu uns nehmen. Der Verzicht auf solche Erkenntnisse würde uns zwingen, immer wieder am Nullpunkt anzufangen und, bildlich gesprochen, das Rad von Generation zu Generation immer wieder neu zu erfinden.

Ohne die sogenannten Klassiker auskommen zu wollen, hieße: bei rasender Fahrt im Auto wohl eine Windschutzscheibe, aber keinen Rückspiegel zu besitzen.

Die Abschaffung des Bewußtseins der Vergangenheit hieße: uns eine Dimension unseres Daseins, nämlich die Zeit, zu nehmen und damit auch unser in die Zukunft gerichtetes Denken zu beschneiden, uns zu zwingen, in der Vergänglichkeit des Augenblicks zu leben, uns in den Zustand einer künstlich erzeugten Orientierungslosigkeit zurückzuwerfen.

Und wenn man also dann noch den schmerzlichen und zum Teil zutreffenden letzten Einwand gegen die Klassiker herbeiholt, das Argument nämlich, die Kenntnis der Klassiker sei ein Vorrecht des sogenannten Bildungsbürgertums gewesen, da kann die Antwort nur lauten: Richtig, und also enteignet Goethe und Schiller, Grülparzer und Stifter, macht ihre Werke allen zugänglich. Auf Goethe hat die alte Elite kein Privileg. Gebt Goethe allen. Gebt ihn auch der neuen Elite.

Ob sie, von Materialismus geschlagen und folgerichtig korruptionsanfällig, bereit ist, ihn zu nehmen?

Die Klassiker: Das ist die Avantgarde aller Zeiten. Wer das nicht begreift, klage dann nicht über die Folgen der eigenen Beschränktheit.

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