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Wozu Geschichte?

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Die Frage „Wozu überhaupt noch Geschichte?“ wurde durch das Mißbehagen über die Langeweile des Geschichtsunterrichts an den Schulen, über den Lehrbetrieb an den Universitäten und über die mangelhafte Rückbindung der Forschung in die gesellschaftliche Öffentlichkeit provoziert. Auch in der Diskussion über die Neuordnung und Reform der Fächer im Lehrplan-gefüge und in der Auseinandersetzung um Auswahl und Planung der Lehrinhalte ist die Disziplin „Geschichte“ besonders umstritten.

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Die Frage „Wozu überhaupt noch Geschichte?“ wurde durch das Mißbehagen über die Langeweile des Geschichtsunterrichts an den Schulen, über den Lehrbetrieb an den Universitäten und über die mangelhafte Rückbindung der Forschung in die gesellschaftliche Öffentlichkeit provoziert. Auch in der Diskussion über die Neuordnung und Reform der Fächer im Lehrplan-gefüge und in der Auseinandersetzung um Auswahl und Planung der Lehrinhalte ist die Disziplin „Geschichte“ besonders umstritten.

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Oberflächliche glauben, daß ein. Unterrichtsfach, dessen Gegenstand vergangenes Geschehen ist, das also eher inickwärts als vorwärts gerichtet zu sein scheint, heute angesichts des gesellschaftlichen, ökonomischen, technischen und kulturellen Wandels und der damit verbundenen Verän-derungei\ des Bildungswesens überhaupt keine Legitimation mehr habe oder zumindest seinen Standort überprüfen müsse. Dabei ist grundsätzlich festzuhalten, daß die in unserer Gegenwart häufig als Krise bezeichnete Situation des Geschichtsunterrichts nicht nur in der Revision der didaktischen Grundsätze und der Ziele schulischen Lernens bedingt ist, sondern in bezug zur intensiv geführten und noch nicht abgeschlossenen methodologischen Grundsatzdiskussion innerhalb der Geschichtswissenschaft steht1.

Diese Situation bedarf einer genaueren Analyse. Das Problem, um das es hier geht, ist die Frage nach der sogenannten „Relevanz“ der Geschichte, der Geschichtswissenschaft und des Geschichtsstudiums. Professor Dr. Thomas Nipperdey CMün-chen), der in einer Untersuchung über den Begriff der Relevanz reflektierte, führt dazu aus: „Die Zahl der Studenten des Faches Geschichte geht auffallend, und zwar nicht nur relativ, sondern auch absolut zurück; ein Teil der Kulturministerien und Schulverwaltungen hat die Tendenz, den Geschichtsunterricht zugunsten eines mit Politik und Sozialkunde integrierten Unterrichts stark zurückzudrängen und die gesamte Geschichte in der Oberstufe auf die Zeit seit der Französischen Revolution zu beschränken; auf dem letzten deutschen Historikertag stand ein vielerwarteter Hauptvortrag unter der zweifelnden Frage „Wozu noch Historie?“

Der Historiker als Festredner bei öffentlichen Anlässen ist, zum Glück kann man sagen, außer Mode gekommen; die politischen Debatten über Freiheit und Menschenrechte, Revolution und Widerstand in der jüngeren Generation bewegten sich — nachdem eine Elterngeneration sich aus der Geschichte zurückgezogen hatte — häufig in einem geschichts-losen Diesseits der Geschichte, es ist, als ob aller Einsatz, alle Erfahrung, alle Problematik früherer Generationen nicht existent wären, die

Selbstgewißheit des Heutigen, des Neuen triumphiert2.“

Diese Beobachtungen, die hier aus deutscher Sicht angeführt werden, treffen zum Großteil auch für die österreichischen Verhältnisse zu. Allerdings ist — das muß hervorgehoben werden — in Österreich kaum etwas vom Rückgang der Zahl der Studenten des Faches Geschichte zu bemerken. Für die „Abkehr von der Geschichte“ macht Nipperdey folgende Gründe verantwortlich: „Das Tempo der Veränderungen ist in unserer Gegenwart so rapide, daß Geschichtliches schnell veraltet und daß das in langer Vergangenheit Gewordene in der Gegenwart kaum mehr unmittelbar sieht- und greifbar ist. Die Zeit, da die Historie in einer sicheren Tradition oder in einer der großen politischen Bewegungen wie der nationalen oder liberalen so etwas wie einen Auftrag hatte, ist spätestens mit der Zeit der Weltkriege vorbei. Die Verwissenschaftlichung der Historie — die nicht mehr Erzählung, sondern abstrakte Analyse produziert — wie die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft und unseres Lebens, die zu einer Zurückdrängung von Erinnerungen und Tradition tendiert, haben die selbstverständliche Verwurzelung der Historie im Leben angenagt. Die Soziologie ist scheinbar besser als die Historie in der Lage, eine Verständigung über die Gegenwart und über die Zukunft zu ermöglichen. Die neue Linke greift die überkommene Wissenschaft und Kultur mit neuer.und ungewohnter Radikalität an, und ein sehr viel weiter reichender Teil der jüngeren Generation stellt das Überkommene ungeduldig jedenfalls in Frage Dazu kommen die Besonderheiten unserer deutschen Lage, die Traditionsbrüche und die Last unserer Geschichte haben alle diese Tendenzen bei uns ganz enorm verstärkt, es gibt bei uns nicht mehr, wie in anderen Landern, wie in Frankreich, England oder in den USA, ein noch halbwegs selbstverständliches Verhältnis zur eigenen Geschichte'.“

Von hier ausgehend, erklärt sich auch die kritische Frage nach der „Relevanz“, wobei heute nicht nur von Relevanz gesprochen, sondern Relevanz vehement gefordert wird. Die Kritiker betonen, daß die bestehende Wissenschaft größtenteils für unsere Gesellschaft irrelevant geworden sei, daß sie ihren Bezug zur Gegenwart nicht reflektiere und im „elfenbeinernen Turm einer sich selbst genügenden Wissenschaftlichkeit“ verharre. Unter „relevant“ ist gemeint, was in einem unmittelbaren Bezug zur Gegenwart steht und zu ihrem besseren Verständnis beiträgt. Die Vergangenheit wäre in diesem Sinne bedeutsam als Vorgeschichte der Gegenwart. Dieser hier erläuterte Relevanzbegriff wird im Fachjar-gon als „präsentistische Geschichtsbetrachtung“ definiert.

In einem weiteren Sinne wird Relevanz der Geschichte so verstanden, daß diese auf das Handeln, auf Ziele und Normen des Handelns in der Gegenwart bezogen wird. Wir sollen aus der Geschichte nicht nur lernen, was getan werden kann, sondern vielmehr lernen, was getan werden soll. Kurzum: Geschichte ist dann relevant, wenn sie sich in den Dienst politischer Pädagogik stellt. Was versteht Nipperdey darunter? „Geschichte soll politisch-moralische Wertordnungen unserer Gesellschaft, sofern über sie mehrheitlich Konsensus besteht, stabilisieren, so den Wert von Freiheit und Demokratie, Frieden und sozialem Fortschritt und den damit verbundenen Institutionen, Zielen und Verhaltensweisen, wie die Gefahren des Nationalismus oder des Autoritätsglaubens verdeutlichen, einprägen, zur Selbstverständlichkeit werden lassen. Ge-, schichte soll zu einem dementsprechenden Verhalten erziehen, sie soll die dafür relevanten' Traditionen oder Modellsituationen aktualisieren4.“

Manche „kritischen“ Historiker und Anhänger der Neuen Linken vertreten sogar die Auffassung, daß Geschichte nicht so sehr auf die Gegenwart, sondern auf die Zukunft bezogen werden müsse. Relevant wäre demnach nicht, was die Gegenwart im Sinne des schon erwähnten gesellschaftlichen Konsensus stabilisiert, sondern was der gegenwarts- und weltverändernden Praxis dient. Unter diesem dritten Gesichtspunkt wäre Geschichte erst dann relevant, wenn sie von der Zukunft bestimmt und die Frage nach dem Tun im Sinne der Weltveränderung zu beantworten imstande ist. Nach der hier aufgezeigten Sinndeutung der Geschichte würde die Geschichtswissenschaft einem Zukunftsproramm, etwa der Emanzipation, der Ablösung von Herrschaftstrukturen, der Befreiung von Unterdrückten oder des Sieges der Arbeiterklasse, dienen. Anders formuliert: Geschichtswissenschaft wäre so parteilich im Sinne einer Parteinahme „in“ der Gegenwart für „ein“ Zukunftskonzept.

Diese zukunftsorientierte Historie versteht sich selbstverständlich auch als Kritik der Gegenwart. Geschichte und Historie sind dann relevant, ,/wenn sie zur Kritik der Gegenwart in der Perspektive jenes Zukunfts-willens beitragen, an diesem Moment der Kritik gerade läßt sieh die Relevanz messen3.“ Die Neue Linke verwendet häufig den Ausdruck „kritische Geschichte“, wobei hier das Wort „kritisch“ nicht mehr Quellenkritik und kritische Methoden bei der Ermittlung von Fakten und Zusammenhängen, sondern eine kritische Stellungnahme zur Vergangenheit, ihren Institutionen und Menschen meint. Nipperdey drückt das so aus: „Nicht die Grundforderung des Historismus nach universaler Gerechtigkeit, danach Menschen und Institutionen aus ihrer Zeit zu verstehen und zu beurteilen, soll mehr gelten; denn solche Gerechtigkeit ist entweder wertindifterent oder gar konservativ, sie rechtfertigt letzten Endes nur das Gewesene und in Konsequenz des historischen Relativismus das Gegenwärtige. Vielmehr geht es um eine Kritik an Gewesenem, weil und insoweit das Maß des Fortschrittes und des Erwünschten, der ,Wünschbarkeiten' Burckhardts, das der Kritiker setzt, nicht entsprechend verwirklicht ist6.“

Wenn nun manche Historiker diese Zielsetzung zu Recht ablehnen, steht doch außer Zweifel, daß die Historie nach Ursprung und Wirkung, Interesse und Resultaten von der Gesellschaft kaum isolierbar ist. Schwerwiegende und zum Teil überzeugende Argumente gegen die Versuche, die gesellschaftliche Relevanz zum Sinn und Zweck der Geschichtswissenschaft zu machen und den Wissenschaftsbetrieb von diesem Prinzip her zu organisieren, erbringt Nipperdey: „Natürlich ist der Historiker standortgebunden, natürlich ist Historie nicht eine Wissenschaft, die einfach ein Abbild der Vergangenheit herstellt, sondern sie enthält die Beziehung zwischen Gegenwart und

Vergangenheit als konstitutives Merkmal in sich, sofern nämlich von der Gegenwart her das Ende sich mit einer Gegenwart ändern kann und darum — in einem spezifischen Sinn — jede Gegenwart ihre Geschichte neu schreibt. Aber — so schwierig auch die hier implizierten und hier nicht zu behandelnden logischen und erkenntnistheoretischen Probleme sind: die Objektivität der Erkenntnis der Vergangenheit bleibt für den Historiker die regulative, seine Tätigkeit leitende und regulierende Idee. Das sogenannte Interesse der Praxis, so sehr es faktisch Historiker beeinflussen mag, ist nicht die Norm geschichtlicher Erkenntnis. Die Soziologie der Wissenschaft und der Forschung ersetzt nicht deren Logik. Und die Behauptung von der Status-quo-Orientierung der auf Objektivität verpflichteten Wissenschaft ist eine unbewiesene Polemik, die gerade im Falle der Historie — angesichts der revolutionierenden Auswirkungen des entschiedenen Historismus — besonders absurd ist. Historie ist jenseits von Rechtferti-gungs- oder von Verwerfungser-kenntnis'.“

Die Wissenschaft kann auch auf die Frage „Was sollen wir tun?“ keine allgemeingültige Antwort, keine Zielpunkte, Werte und Richtungen im Sinne einer Weltveränderung geben. Schließlich gerät auch die These von der „politisch-pädagogischen Relevanz“ in Widersprüche zu ihrem eigenen Anspruch. Es ist kaum vorher festzustellen, ob ein Gegenstand oder ein Ergebnis in diesem pädagogischen Sinne verwendbar ist oder ob eine moralisch-pädagogische Perspektive wirklich etwas sehen läßt. Wir kennen die Gefahr, das in die Geschichte hineinzuinterpretieren, wofür man sie verwenden will. Nipperdey weist auf die Tatsache hin, daß, wo das pädagogisch-politische Interesse zur Norm gemacht wird, die geschichtliche Erkenntnis gerade etwas für die Praxis Wesentliches, nämlich Erweiterung des Erfahrungsraumes, Befestigung des Urteils durch Objektives nicht erreichen kann. Sie bleibt in der Selbstbestätigung einer Gesellschaft oder ihrer Gruppen stecken und bietet nichts Neues mehr8.

Über die wichtige Frage, ob wir aus der Geschichte lernen können, reflektierten schon zahlreiche Historiker. Nipperdey legt uns eine brauchbare Antwort vor: „Wir können aus der Geschichte lernen, nicht im Sinne der moralischen oder religiösen Verbindlichkeit, des vorhistorischen historia magistra vitae, nicht auch so, daß wir Rezepte vermitteln oder bekommen, die man mehr oder minder unmittelbar anwenden könnte. Denn der Historismus hat mit dem in dieser Hinsicht siegreichen Individualitätsprinzip Situationen und Normen als geschichtlich, nämlich als wandelbar, erwiesen: die Situationen, auf die solche Rezepte angewandt werden könnten, sind immer wieder andere. Zwar lassen Vergleiche und Typenbildung Ubertragbarkeiten möglich erscheinen. Man kann durch die Analyse von Krisen, von Friedensordnungen, vom Verhältnis von Innen- und Außenpolitik, von sozialem und kulturellem Wandel Vermutungen über Regelmäßigkeiten anstellen und daraus Schlüsse für die Gegenwart, Handlungsregeln folgern. Aber die Applizierbarkeit und die Applikation so gewonnener Erkenntnis bleibt immer ungewiß, die Wiederholung und die Wiederholbarkeit ist ein Problem“.“ Nipperdey bestreitet jedoch nicht daß. wir in einem ganz bestimmten Sinne aus der Geschichte lernen können, dann nämlich, wenn Möglichkeiten des Handelns, Freiheit und Determination, Größe und Grenze unseres Spielraumes, die Macht der Institutionen, Traditionen und Kollektive und die Möglichkeit ihrer Veränderung transparent und einsichtig werden.

Entscheidend bleibt die Tatsache: „was aus der Geschichte zu lernen ist, ist nicht in einem Vorgriff verfügbar, so daß wir in der Zuwendung zur Geschichte das auswählen könnten, wo wir etwas lernen zu können meinen oder gar das, von dem wir — vor aller Historie — meinen, es sollte gelernt werden. Nur wer sich, indem er vom Lernenwollen gerade absieht, der Fülle der wesentlichen Phänomene der Vergangenheit zuwendet, wird zu Ergebnissen kommen, von denen wir alle im eben beschriebenen Sinne vielleicht etwas lernen können'0.“

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