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Wünsche für das Jahr der Bibel II

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Seit es die biblischen Bücher gibt, haben gläubige, gelehrte Menschen ihren ganzen Fleiß darauf verwendet, diese Texte zu erklären. Und da diese Arbeit bereits viele Jahrhunderte läuft, sollte man eigentlich meinen, daß die Christenheit nun endlich genau weiß, was in der Bibel steht und wie das zu verstehen ist.

Diese Erwartung ist durchaus berechtigt, und man kann auch feststellen, was Generationen von Christen hier geleistet haben. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir kein Endergebnis in Händen haben. Das hat unter anderem sehr, einfache Gründe wie zum Beispiel, daß wir aufgrund immer neuer Ausgrabungsfunde einen immer besseren Bibeltext bekommen. Denn es gibt ja von keinem Bibelbuch das Original, sondern nur Abschriften unterschiedlichen Alters, und die sind nicht immer im besten Zustand.

Weiters, man kann deshalb nicht sagen, daß wir über eine endgültige Kenntnis des Bibelinhalts verfügen, weil eben jede Zeit die Bibel von neuem lesen, erklären und verstehen muß, um sich die Bibel aneignen zu können. Sicher, das „Wichtigste" am Inhalt der Bibel scheint wohl inzwischen unumstritten zu sein, aber die Erfahrung lehrt, daß das längst nicht genügt.

1938 fanden zum Beispiel sehr fromme Leute gar nichts dabei, Mitglied bei der NSDAP zu werden, und sie haben Hitlers Einmarsch in Österreich mit Psalm 118/24-26 begrüßt!

Solange wir die Bibel lesen, werden wir die Frage nicht los: Welche bedenklichen, ja widergöttlichen Taten meinen wir mit unserem biblischen Glauben vereinen zu können? Das Problem ist so alt wie die Bibel selbst. Im 1. Jahrhundert zum Beispiel fanden Christen nichts dabei, sich Sklaven zu halten. Und im 18. Jahrhundert fanden fromme, evangelische Christen nichts dabei, daß in ihren Fabriken Kinder als Arbeitskräfte verwendet wurden. Und heute können es immer noch viele „Christen" mit ihrem biblischen Glauben vereinen, daß zwei Drittel der Menschheit hungern müssen. Nicht der „Herr", der „Markt" ist wohl ihr Gott!

Die Geschichte der Bibelauslegung ist voll von schrecklichen Fehlern, die ganz einfache, fromme Leute gemacht haben, aber ebenso von solchen, die theologische Fachleute, Päpste, Bischöfe und Kirchenversammlungen jeglicher Art gemacht haben. Keine Kirche hat hier Grund zur Selbstgerechtigkeit. Und wehe der Dogmatik, die Irrtümer und Ketzereien unkorrigierbar macht!

Die Bibelauslegung ist eine ständige Aufgabe der Kirche wie die Kirchenerneuerung. Das Jahr der Bibel könnte eine Gelegenheit sein, alle die kirchlichen Gegebenheiten zu überprüfen, die auf einer Bibelauslegung aus längst vergangener Zeit basieren. Die Bibel kann man nur in Bereitschaft zur Selbstkritik lesen - auch in St. Pölten, Genf, Konstantinopel und Wittenberg!

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