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Wünsche, Wirklichkeiten

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Es ist richtig, daß heute über den Wert der deutschen Ostpolitik nicht nur in Bonn, sondern auch in Paris, London, Rom und vor allem in Washington unterschiedliche Vorstellungen herrschen. Aber wie dem auch immer sein mag, vorherrschend ist die Vorstellung, daß „die Deutschen selbst den Weg finden müssen“. Und ebenso herrscht ringsum die Vorstellung, daß man nicht „wegen der Deutschen“ oder gar „wegen Berlins“ ungleich höhere, weit über den Köpfen der Deutschen gelegene Ausgleichsbestrebungen aufgeben möchte. Sollten „die Deutschen“ also, was ihr gutes Recht wäre, die Verträge nicht anzunehmen wünschen, so würde man in Paris, in London, in Rom und in Washington eben das „delikate Problem irgendwie umgehen“ müssen. Mit anderen Worten: die Deutschen allein würden an einer Zwei-Welten-These festhalten, die zwar dem Grundsatz nach auch bei ihren Verbündeten noch besteht, die aber aus der Politik der praktischen Beziehungen verschwunden ist.

Hinzu kommt ein Problem, das sich nur den Deutschen stellt. Der „zweite deutsche Staat“, die DDR, hat sich gänzlich anders entwickelt als die BRD. Je länger diese Verschiedenartigkeit der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung andauert, desto illusorischer wird vor dem Hintergrund der realen Machtverhältnisse auch die Aussicht auf eine „Wiedervereinigung alten Stils“.

Bonn steht also vor der Wahl, entweder eine „neue Ostpolitik zu versuchen oder gar keine zu betreiben. Und damit steht man vor der Frage, ob ein Staat wie die BRD angesichts der geänderten politischen Umweltverhältnisse, ob man diese nun positiv oder negativ beurteilen mag, sich leisten kann, so gut wie keine Ostpolitik zu treiben.

Irgendwie kehren alle diese Schwierigkeiten auch in der lahmen oppositionellen Argumentation der CDU/CSU wieder. Wenn man nun in der allerdings wenig effizienten Sitzung der Länderkammer, des Bundesrates, die Ostverträge mit knapper Mehrheit negierte, Zusätze forderte und Anmerkungen urgierte, so täuschten selbst starke Worte nicht darüber hinweg, daß eine realistische Alternative leider nicht angeboten wurde. Barzels Besuche in Moskau und Washington haben ergeben, daß man zwar der Opposition keine Meinung oktroyieren wolle, daß man aber — es klingt für eine Opposition absurd — unter keinen Umständen der Ostpolitik des Kabinettes Brandt/ Scheel in den Rücken fallen werde. So ist die Opposition also auf sich selbst angewiesen und — steht vor einem für sie unlösbaren Problem, denn die angebotene Alternative: ablehnen und zuwarten, was dann passiert, beruht auf einer Annahme, die wohl nicht in Erfüllung gehen wird. Nämlich auf jener, daß Moskau so ungemein viel an den Verträgen gelegen sei, daß es unter einem neuen Vorzeichen zu größeren Konzessionen bereit wäre. Diese Annahme wird aber durch kein Indiz gerechtfertigt.

In der Tat hat Moskau längst dazu angesetzt, das Gewaltverzichts-Ver-tragswerk auf einer anderen Straße zu überholen: es drängt auf eine „Europäische Sicherheitskonferenz“, die angeblich eine neue politische Raumordnung schaffen soll. Wie immer diese auch aussehen könnte, in den westlichen Staatskanzleien ist man, wenn auch mit Maßen, nicht abgeneigt, es damit zu versuchen. Da steht denn die BRD unmittelbar davor, einen gigantischen „Schwarzen Peter“ zugespielt zu erhalten. Es könnte nämlich der Fall sein, daß diese Sicherheitskonferenz schließlich von der Ratifizierung der Gewaltverzichtsabkommen just in jenem Augenblick abhängig gemacht wird, in welchem eine allgemeine Begehrlichkeit nach ihr um sich gegriffen hat. Da nicht gut möglich erscheint, eine solche Konferenz ohne die Deutschen oder über diese hinweg abzuhalten, geriete die BRD erneut unter heftigen Zwang. Von allen Seiten gedrängt, würde eine Bonn wünschenswert erscheinende „Verbesserung des Vertragswerkes“ dann erst recht nicht zu erreichen sein, ja, die Gefahr zöge herauf, mit einer „Verdünnung“ zufrieden sein zu müssen.

Das alles ist für Bonn und vor allem für die Bonner Opposition höchst unerfreulich. Sowohl für Regierung und noch mehr für die Opposition. Solange ist man der Konfrontation mit dem „Tag der Wahrheit“ — nämlich dem trotz Wirtschaftswunder und ungewöhnlich erfolgreichem Wiederaufstieg total verlorenem Kriege — aus dem Weg gegangen, daß man sich nun schwer darauf einstellen kann, dem schaurigen Bild erneut zu begegnen. Die Begegnung wird desto schmerzlicher, als sie nicht bloß einen außenpolitischen Charakter hat, sondern auch einen eminent innenpolitischen bekam. Je schärfer nämlich Pro und Kontra formuliert werden, desto tiefere, ja, vielleicht für lange Zeit unüberbrückbare Risse ergeben sich in der politischen Landschaft der BRD selbst. So sehr die CDU/CSU bangen muß, daß im Lichte der „neuen Ostpolitik“ das einst so erfolgreiche Adenauer-Image gänzlich zerbirst, um so mehr müssen SPD und FDP sich sorgen, nicht unversehens zum Leitmotiv einer neuen „Dolchstoßtheorie“ zu werden, mit allen bösen Folgen, für die es in Deutschland ja genug unheimliche Vorbilder gibt.

Im übrigen dürfte bereits sowohl der Opposition wie der Regierung eines klar geworden sein: die Ratifizierung der Gewaltverzichtsverträge allein ist noch nicht die „neue Ostpolitik“. Sie ist sozusagen nur eine Art „Eintrittskarte“ zu dieser. Da wäre es aber gut, ein Höchstmaß an gemeinsamer Konzeption zu erreichen. Auf beiden Seiten wohnt nun die Sorge, die Auseinandersetzung könnte an Härte so zunehmen, daß spätere Kooperationen für lange Zeit undenkbar wären. Den Vorteil daraus würden andere einheimsen, für die Deutschen blieben insgesamt nur noch die Nachteile reserviert. Das ist die Wirklichkeit und sie ist stärker als alle ehrenhaften Wünsche und schönen Illusionen.

Alles in allem: das traurige Fazit einer versäumten konstruktiven Politik.

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