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Zäpfchen im Ohr

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Da geht sie, die Holde, schreitet durch das alltägliche Gedränge der Großstadt, blickt starr und vielleicht ein wenig verträumt vor sich hin, und lauscht in sich hinein. Hört sie eine innere Stimme, die Stimme ihres Gewissens? Betet sie? Meditiert sie? Ein schlanker Zapfen aus Kunststoff steckt ihr im Ohr. Eine Leitung verbindet den Zapfen mit einem kleinen Gegenstand in der Jackentasche. Unterwegs von einer Verabredung zur anderen hört die Holde zwischendurch ein wenig Musik.

Es gibt Taschenbücher, aber in seiner Tasche hat der Mensch keine Augen, er kann die Taschenbücher unterwegs auf der Straße nicht lesen. Auf das Taschenbuch folgte nun das Taschenorchester. Es ist jederzeit einsatzbereit, Tag und Nacht abrufbar mit der Hilfe des kleinen Tonbandgerätes.

Man kann zu Hause ununterbrochen Radio hören, kann sich beim Einkäufen in den Geschäften von Musik

berieseln lassen, und muß auf das einlullende Wiegenlied auch zwischendurch nicht verzichten.

Nur nicht denken! Nur nicht beobachten! Sich nur nicht einlassen auf das Abenteuer des Lebens! Gedanken könnten unbequem sein, Erlebnisse könnten das Wohlbefinden stören, und die Fakten erst! Ja, die Fakten sind hart.

Die unsichtbaren Taschenspieler mit ihren unsichtbaren . kleinen Instrumenten bringen es fertig, zwischen Mensch und Umwelt eine unsichtbare Mauer aus Tönen zu errichten. Hinter dieser Mauer versteckt kann man ungestört dahinvegetieren, auf die einfachsten Lebensfunktionen beschränkt, ohne Sinn, ohne Ziel.

Der Rhythmus des Tagesablaufs bleibt fast unbemerkbar; man wacht auf, tut dies und jenes, geht zu Bett, und hat dabei die Traumwelt der summenden Gleichgültigkeit doch nicht verlassen. Man verbringt sein Leben wie im ewig gleichmäßigen Dämmerlicht eines Aquariums, ohne Willen. Allein die lenkende Kraft der eigenen Instinkte macht sich bemerkbar. Man ist eingeschlafen und wähnt sich frei.

Die Holde mit dem Zäpfchen im Ohr ist die ideale Konsumentin. Sie läßt sich berieseln und von anonymen Mächten versorgen. Sie hat auf das Wagnis eines eigenen Schicksals verzichtet.

Der perfekte Untertan.

Machthaber, Bosse und Herren der Welt, wenn es euch gelingt, uns alle einzuschläfern, habt ihr’s geschafft.

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