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Zehn Anstöße für Osterreich

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Die großen Transformationen an den nördlichen, östlichen und südlichen Grenzen Österreichs beeinflussen in direkter und noch mehr in indirekter Form Österreichs Lage in mannigfacher Weise:

1. Unsere Weltoffenheit ist gefragt und gefordert, stößt gegen Engstirnigkeit und Kleinkariertheit. Was um uns geschieht, sollte der Belebung Österreichs dienen, gerade dort, wo ein Kleinstaat auch heute Eigenständiges leisten kann:

Von WOLFGANG MANTL in Kultur, Kunst, Wissenschaft und Umweltschutz.

2. Die mitteleuropäischen Wandlungsprozesse werden überall in Europa einen generellen Idelogie-verdacht stärken, der ja auch von der Technizität des EG-Prozesses genährt wird. Der Pendelschlag könnte freilich auch - vom Stand einer Partizipationskultur wenig erfreulich - zu Privatismus und jener zynischen Gleichgültigkeit führen, den die Italiener „qualun-quismo” nennen.

3. Die Veränderungen in unseren ostmitteleuropäischen Nachbarländern haben eine besonders starke Skepsis gegenüber dem Marxismus zur Folge. Das führt nicht nur zum Abstieg marxistisch-leninistischer Positionen, sondern auch zur Ab-schwächung der neomarxistisch getönten 68er-Atmosphäre unter Intellektuellen, keineswegs jedoch zur Obsoleszenz sozialdemokratischer Ideen und Bewegungen. Sowohl Franz Vranitzkys „unsozialistischer” Erfolg als auch das matte Abschneiden der Grün-Alternativen - durchaus Nachfahren der neulinken 68er-Generation-bei der Nationalrats wähl vom 7. Oktober 1990 erscheinen mir Bestätigung dieser These.

4. In Österreich stoßen universalistische Traditionen auf nationalistische. Hier sind neue Verschiebungen und Verwerfungen zu erwarten. Die Hoffnung der Nachkriegsgeneration ging ja dahin, daß es möglich sei, Identität nicht nationalistisch aufzubauen, sie vielmehr mit anderen und durch andere wachsen zu lassen, die Position des Individuums zu stärken und Minderheitenschutz zu praktizieren, die Balance zwischen universaler Menschheitsmoral und partikularer Moral von Region und Nation zu finden. Aber das war und ist immer eine fragile und prekäre Kulturleistung, die auch auf wirtschaftliche Rahmenbedingungen angewiesen ist, die herzustellen viel schwieriger ist als eine politischjuristische Reform im hergebrachten Sinn. Für Österreich und die Schweiz ist eine nichtsprachnatio-nale Identität Lebensfrage.

5. Begegnungen mit kroatischen, polnischen, slowakischen und slowenischen Katholiken vermitteln den erfrischenden Eindruck einer praktizierten, unkomplizierten und familialen Christlichkeit, von deren Beispiel Ermunterung für eine schale und ängstliche österreichische Kirche ausgehen könnte.

6. Es ist zu hoffen, daß die stek-kengebliebene österreichische Grundrechtsreform vom Kernbereich der Umwälzungen, dem Ringen um die Menschenrechte, neue Impulse erhält. Das Schlußdokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE vom 29. Juni 1990 - ein großartiges westliches Verfassungsprogramm - atmet den Geist eines grundrechtlichen Aufbruchs.

7. Weniger als ich anfangs dachte, wird die österreichische Demokratiediskussion durch die mitteleuropäische Erneuerung bewegt werden (eher ist dies noch in der Bundesrepublik Deutschland zu erwarten, deren streng repräsentatives Grundgesetz noch manch „rotgrünen Anstoß” in Richtung direkter Demokratie erfahren dürfte). Die „Runden Tische” mündeten sehr rasch in Repräsentativsysteme pa. -teienstaatlichen Zuschnitts. Zur Entfaltung direktdemokratischer und partizipatorischer Strukturen fehlten Zeit und Kraft. Die Wahl-und Abstimmungsbeteiligung sank bald deutlich.

8. Die Verlagerung der europäischen Gewichte, die Suche nach neuen supra- und transnationalen Proportionen bewirken in Österreich ein Nachdenken über „Unzeitgemäßes” im Staatsvertrag vom 15. Mai 1955 sowie in Österreich und der Schweiz eine rekonstruktive Beschäftigung mit der Neutralität, wenn es etwa in der Erklärung von Stainz (der Teilnehmer des Symposions „Kultur, Wirtschaft und Politik im Wandel”) vom 15. September 1990 heißt: „So sollen Inhalt und Auslegung der österreichischen Neutralität den neuen Entwicklungen gerecht werden.” Freilich besteht bei diesen Adaptie-rungsvorgängen mit beträchtlichen politischen und rechtlichen Folgen eine besondere Sorgfaltspflicht.

9. Die neue Situation Mitteleuropas ruft nach einer Verstärkung der traditionellen, pragmatischen Nachbarschaftspolitik Österreichs im Zeichen eines neuen transnationalen Regionalismus, und zwar in qualitativer und quantitativer Hinsicht. Hier darf das Ergebnis keineswegs Ausspeisung oder Ab-speisung sein. Voraussetzung ist ein partnerschaftliches Einander-Ken-nenlernen in einer Atmosphäre eines illusionslosen, unromantischen Geschichtsbewußtseins und einer taktvollen Menschlichkeit, die das paternalistische Schulterklopfen ebenso meidet wie j edes Freund-Feind-Denken.

10. Österreich kann sich keine Wohlstandslässigkeit, abgepanzert durch Fremden-, Kinder- und Altenfeindlichkeit, leisten, die großen Veränderungen schaffen neue Machtverhältnisse und Kommunikationsströme, die an fast zum Mythos gewordenen Selbstverständlichkeiten Österreichs („Brük-ke”, „Drehscheibe”) nagen. Die Konkurrenz durch Prag und Budapest wird wachsen. Ohne Hochmut könnte Österreich seine historischen Erfahrungen als soziopoliti-sches Laboratorium anbieten, die es vom bereits reduzierten Großstaat des Jahrhundertbeginns zum (einigermaßen) selbstbewußten Kleinstaat der Jahrtausendwende führten, vom Zerfall einer Großmacht über Identitätsschwäche, Bürgerkrieg und Anschluß der I. Republik zur Konkordanz der II. Republik (Große Koalition, Sozialpartnerschaft), die ihrerseits unter Konkurrenz- und Konfliktaspekten einer weiteren, geradezu dramatischen „Verwestlichung” unterworfen ist, die selbst wieder lehrreich ist. Jedenfalls darf Österreich nicht die kleine Formel einer großen Bequemlichkeit sein.

Der Autor ist Vorstand des Instituts für Öffentliches Recht, Politikwissenschaft und Verwaltungslehre an der Universtität Graz; Auszug eines Beitrages in: „politicum - Josef-Krainer-Haus-Schriften”, Nr. 50, Jänner 1991.

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