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Zehn Jahre katholische Gesamtschule Münster

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1969 wurde vom Bistum Münster in Nordrhein-Westfalen (BRD) eine Schule mit einem Gesamtschulversuch ins Leben gerufen. Sie ist die einzige Schule unter allen katholischen Schulen der BRD, die als differenzierte und integrierte Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe und zugleich als Ganztagsschule in Fünf-Tage-Woche geführt wird. Dasiesich als besonderes Ziel die Aufgabe der Erziehung zum Frieden gesetzt hat, trägt sie auch den Namen „Friedensschule".

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1969 wurde vom Bistum Münster in Nordrhein-Westfalen (BRD) eine Schule mit einem Gesamtschulversuch ins Leben gerufen. Sie ist die einzige Schule unter allen katholischen Schulen der BRD, die als differenzierte und integrierte Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe und zugleich als Ganztagsschule in Fünf-Tage-Woche geführt wird. Dasiesich als besonderes Ziel die Aufgabe der Erziehung zum Frieden gesetzt hat, trägt sie auch den Namen „Friedensschule".

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An ihr werden derzeit 1500 Buben und Mädchen unterrichtet. Lehrer aller Schultypen des deutschen Schulsystems (aus Hauptschule, Realschule, Gymnasium und berufsbildenden Schulen) sind an ihr tätig.

Im September 1979 fand anläßlich des zehnjährigen Bestandes dieses Gesamtschulversuches eine pädagogische Fachtagung statt, zu der auch der Verfasser eingeladen war. Sie galt der Beantwortung der Frage: „Welchen Stellenwert haben die Erfahrungen mit Gesamtschulen, insbesondere mit der Friedensschule, Tür das künftige Schulsystem?" In einer Fragerunde wurden die anstehenden Fragen von den Veranstaltern der Tagung, unter anderen vom Leiter der Schule, vom Leiter der Hauptabteilung Schule und Erziehung des die Friedensschule tragenden Bistums Münster sowie vom Leiter der wissenschaftlichen Begleituntersuchungen, beantwortet. Ihre Antworten, die sich vor allem auf grundsätzliche Fragen beziehen, sind im folgenden auszugsweise und im Wortlaut wiedergegeben:

„Was versteht die Friedensschule unter sozialer Integration?"

„Soziale Integration heißt a) Erziehung der Schüler zu einem guten Umgehen miteinander, auch wenn sie unterschiedlich begabt sind und aus unterschiedlichen sozialen Schichten kommen, b) Angebot der gleichen persönlichen, sachlichen und ideellen Ausstattung der Schule für alle Schüler, c) Einbeziehung der verhaltensauffälligen Schüler in die Schulgemeinschaft, d) Vermittlung eines Grundkonsenses hinsichtlich der Grundwerte des menschlichen Zusammenlebens."

„Wurde die Chancengleichheit der Schüler vergrößert?"

„Das Differenzierungssystem an Gesamtschulen kann dieser Zielsetzung hinderlich sein, wenn der Wechsel der Gruppen, die Mobilität der Schullaufbahnen überbetont wird. Man kann aber nicht die soziale Integration gegenüber der Leistungsdifferenzierung überbetonen, ohne das Gesamtziel der Schule - angemessene Förderung aller Begabungen - zu vernachlässigen."

„Gibt es Schülergruppen, die an einer Gesamtschule besonders gut, gibt es Gruppen, die weniger gut gefördert werden?"

„Wenn an Gesamtschulen die Integration überbetont wird, besteht die Gefahr der Nivellierung. Die sehr schwachen Schüler kommen dann nicht zu ihrem Recht und ebenfalls die sehr lernstarken Schüler. Sehr labile und lernschwache Schüler bedürfen einer besonders intensiven Betreuung in stabilen Gruppen. Diese Aufgabe ist noch nicht befriedigend gelöst. Auch die Gesamtschulen haben es noch nicht erreicht, daß das Ansehen des Hauptschulabschlusses verstärkt wird." -„Wählt man ein System der Unterrichtsorganisation, solche Differenzierungsmodelle, wie wir sie im Augenblick durchführen, so kommt leicht der Integrationsgedanke zu kurz. Es leidet der Klassenverband als pädagogische Einheit. Der einzelne Schüler entbehrt einer langfristigen konstanten Gemeinschaft. Schüler, die gegenüber wechselnden sozialen Bezügen sensibel reagieren, werden hier wohl eher benachteiligt. Anders sind die Akzente im Kernunterricht gesetzt. Finden sich hier Schülergruppen, die bei einem Frontalunterricht - z. B. im 5. Schuljahr - von der Durchschnittsanforderung nicht erfaßt werden, so geht der Unterricht an ihnen vorbei."

„Inwieweit belastet die Tatsache, daß eine Gesamtschule im Ganztagsbetrieb arbeitet, den Schulversuch?"

„Der Ganztagsbetrieb erscheint als das größte Problem der Gesamtschule. Von ihm vor allem geht der Streß für Schüler und Lehrer aus. Er ist ein wesentlicher Kostenfaktor." - „Infolge des Ganztagsunterrichts verteilt sich die Aufenthaltszeit des Lehrers in der Schule nahezu jeden Tag über Vormittag und Nachmittag. Korrekturzeiten, Zeiten der Weiterbildung und der Unterrichtsvorbereitungen verlegen sich zwangsläufig auf den Abend und das Wochenende. - Neben dem Gesichtspunkt, inwieweit die Lehrerbelastung deutlich zunimmt, zeigt sich die Ganztagsschule auch als besonders belastend für die Schüler, und hier insbesondere für die jüngeren. Gab es früher für Lehrer und Schüler schon die berüchtigte ,6. Stunde' im Tagesverlauf, so sind jetzt noch bei uns die 8. und 9. Schulstunde pädagogisch sinnvoll zu gestalten. Jedoch sind dann Auffassungsvermögen und Interesse der Schüler kaum noch zu aktivieren."

„Reichen zehn Jahre Erfahrung aus, um ein abschließendes Urteil darüber zu gewinnen, ob sich die Gesamtschule bewährt hat, ob sie als eine neben anderen Regelformen oder ob sie als einzige Regelform des Schulwesens geführt werden soll?"

„Aus den Erfahrungen einer zehnjährigen Arbeit an der Friedensschule kann man sagen, daß die dort geleistete Arbeit voll verantwortbar ist. - Es gibt keine überzeugende Antwort auf die gestellte Versuchsfrage des Deutschen Bildungsrates, ob die Gesamtschule oder das dreigegliederte Schulsystem besser ist. - Eine Durchsetzungsstrategie ,Zur Etablierung einer Schule der Zukunft' würde dem jetzigen Stand der pädagogischen Erfahrung und Diskussion nicht entsprechen." - „Nach zehn Jahren Schulversuch Friedensschule haben sich die Erwartungen erfüllt, daß bei Einsatz ausreichender Kräfte und Mittel die Gesamtschule eine gute Schule sein kann, vor allem für bestimmte Gruppen von Schülern. - Eine Bilanz der Erfahrungen der Friedensschule rechtfertigt aber nicht die Einführung der integrierten Gesamtschule als Regelschule unter anderen Regelschulen noch gar als einzige Schulform."

Fassen wir zusammen!

Der „Gesamtschulversuch Friedensschule Münster" wurde unter kirchlicher Trägerschaft auf freiwilliger Basis und mit einem bewundernswerten Engagement sowie einem ausgesprochenen Interesse am Gelingen des Gesamtschulversuches von Seiten der Lehrerschaft aufgebaut und zehn Jahre erprobt. Es ist daher sicherlich keine Anmaßung, wenn wir überzeugt sind, daß der Bilanz über diese zehnjährige Erprobung ein besonderer Aussagewert zukommt. Folgendes kann aus ihr ersehen werden:

1. Begabte und psychisch nicht labile Schüler können in der Friedensschule eher gefördert werden. Für besonders begabte Schüler besteht in der Friedensschule eine bessere Möglichkeit der Förderung als im dreigegliederten Schulsystem.

2. Psychisch labile Schüler hingegen, besonders, wenn sie zusätzlich Begabungsschwierigkeiten aufweisen, sind in der Friedensschule benachteiligt. Diese Schüler, die gegenüber wechselnden sozialen Bezügen sensibel agieren, sind auf den Klassenverband als pädagogische Einheitangewiesen. Siehaben nicht dieselbe Chance, ihrer Begabung gemäß gefördert zu werden, wie die unter 1. genannten Schüler. „Die Aufgabe", sie zu fördern, „ist noch nicht befriedigend gelöst".

3. Im Gesamtschulsystem wird mit geradezu „heroischem Einsatz" versucht, an sich Widersprüchliches, nämlich Differenzierung nach Leistungsgruppen und soziale Integration, mitsammen zu vereinen. Kann nun, um eine Nivellierung zu vermeiden, wie dies an der Friedensschule nicht anders möglich ist, auf weitgehende Differenzierungsmaßnahmen nicht verzichtet werden, sind die lernschwächeren und labilen Schüler, die einer langfristigen konstanten Schüler-Schüler- und Schüler-Lehrer-Beziehung bedürfen, die Leidtragenden. „Sie sind auf der Friedensschule nicht besonders gut aufgehoben." Ob nicht in der bisherigen Gesamtschuldiskussion die entscheidende Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen in stabilen Gruppen für die Entfaltung der verschiedenen seelischen Antriebsvermögen zuwenig beachtet oder gar unterschätzt worden ist?

4. Weitere schwere Belastungen bringt die Verquickung der Gesamtschule mit der Ganztagsschule mit sich. Der Ganztagsbetrieb führt zu einem für Schüler und Lehrer ungesunden und unzumutbaren Streß. Hier liegt auch der Grund, warum das reichhaltige Freizeitangebot der Friedensschule vom Großteil der Schüler nicht genutzt werden kann. Auch Seelsorge und Jugendarbeit leiden darunter. In der Hektik des Ganztagsbetriebes kann die hiefür nötige entspannte Atmosphäre einfach nicht aufkommen.

5. Für bestimmte Gruppen von Schülern kann die Gesamtschule eine gute Schule sein. Sie aber deshalb als Regelschule unter anderen Regelschulen oder gar als einzige Schulform einzuführen, wäre aufgrund der bisherigen Erfahrungen nicht zu verantworten.

Abschließend kann gesagt werden, daß es das unbestrittene Verdienst der Friedensschule bleibt, daß sie innerhalb der gesamten Schulentwicklung mit den Wertvorstellungen des Schulträgers und des Kollegiums die pädagogische Diskussion um die Gesamtschule offengehalten, sich erfolgreich gegen einseitige ideologische Festlegungen behauptet und durch Praxiserfahrungen Möglichkeiten und Grenzen dieses Schulsystems erkennbar gemacht hat.

Hofrat Dr. Johann Winkelbauer FSC ist Schulreferent der Superiorenkonfe-rem

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