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Zehn Jahre Schuldenkrise in Lateinamerika

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Brasilien schuldete vor zehn Jahren bereits 100 Milliarden Dollar. Trotzdem explodierte die lateinamerikanische Schuldenkrise im Sommer 1982 nicht in Brasilia, sondern in Mexiko-Stadt, wo man nur mit 80 Milliarden in der Kreide stand. Damit begann der dritte große Zyklus der lateinamerikanischen Schulden.

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Brasilien schuldete vor zehn Jahren bereits 100 Milliarden Dollar. Trotzdem explodierte die lateinamerikanische Schuldenkrise im Sommer 1982 nicht in Brasilia, sondern in Mexiko-Stadt, wo man nur mit 80 Milliarden in der Kreide stand. Damit begann der dritte große Zyklus der lateinamerikanischen Schulden.

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Lateinamerikas erste Schuldenkrise setzte um 1830 ein, als die Geldaufnahmen in London während der Befreiungskriege gegen Spanien und die Kredite für die frühen Gehversuche der jungen Republiken unbezahlbare Volumina erreichten. Londons risikobereite Finanzhäuser mußten damals die Last der Krise tragen.

Im späten 19. Jahrhundert erhielt Lateinamerika jedoch mit liberaler Wirtschaftspolitik, Eisenbahnbau, Hafenmodernisierung und Bergbauinvestitionen eine historische Chance. So florierten um 1900 beträchtliche Teile des Subkontinents. Argentinien etwa gehörte damals zu den reichsten Ländern der Erde und stand weit vor Brasilien. Verschiebungen im Welthandel bereiteten diesem Boom ein Ende.

Mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 wurde Lateinamerika insgesamt zum zweiten Male zahlungsunfähig. Der gesamte Finanzkreislauf kam zum Stehen, Staatsbankrotte und unilaterale Moratorien gab es während jener Dekaden zuhauf. Die Schulden wurden seitens britischer, kontinentaleuropäischer und nordamerikanischer Banken gestreckt und geschoben, bis

der Zweite Weltkrieg Lateinamerika als Zulieferer für die große US-amerikanische Kriegsmaschinerie in einen Devisenhorter verwandelte.

Brasilien, das 1944 auf der Seite der Alliierten eigene Truppen nach Italien entsandt hatte, war damals weitgehend schuldenfrei. Das peronisti-sche Argentinien konnte 1946 in einer Trotzgeste seine Außenschulden mit der Ausfertigung eines Schecks absolvieren.

Nach dem Krieg trat der Subkontinent entlang der entwicklungspolitischen Maximen der Cepal-Schule (UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika mit Sitz in Santiago de Chile) in seine Binnenentwicklung ein. Zunächst schien die berühmte Formel von der „importsubstitionie-renden Industrialisierung" aufzugehen. In den fünfziger und sechziger Jahren konnte Lateinamerika beeindruckend modernisieren und industrialisieren.

„Schornsteinindustrien"

Jedoch ging die Erwartung von Devisenakkumulationen nie auf. Im Gegenteil, je mehr der etatistische Interventions-Staat cepalinischer Prägung mit seiner wuchernden Bürokratie an Leistungskapazität verlor, desto stärker wurde der externe Finanzierungsbedarf. Spätestens mit dem Erdölschock 1973 stellten sich der regionalen Entwicklung Hemmnisse in den Weg.

Aus vielen Gründen konnte Lateinamerika die sich aufschaukelnde Krise nicht kreativ bewältigen, sondern nahm Zuflucht in die - bereitwillig angebotene - Außenfinanzierung. Diese verdeckte einige Jahre lang die

strukturelle Schwäche, bis 1982 das Dynamit der aufgestauten Schulden (diesmal zumeist nordamerikanischer Herkunft) explodierte.

Während in der Folgezeit die ostasiatischen Schwellenländer in der internationalen Konkurrenz an Lateinamerika vorbeizogen, blieb die Region lamentierend untätig oder kanalisierte ihre aus mineralischen Rohstoffexporten gewonnene Rente immer noch in die längst obsolet gewordene Stufe der „Schornsteinindustrien", deren Erzeugnisse - und dafür ist Brasilien heute ein Beispiel -keine internationale Wettbewerbsfä-

higkeit aufwiesen. Zu allem Unglück dieser schwierigen Phase kam hinzu, daß - mit Ausnahme des Erdöls -sämtliche traditionellen Exportgüter aus der mineralischen und tropenagrarischen Produktion ihren strategischen Wert verloren und daher keine guten Preise mehr brachten.

1981 stand Lateinamerika mit 280 Milliarden Dollar Schulden da. 1982 explodierte die Lage mit einem Anstieg auf320 Milliarden! Bei unglücklichem Schuldenmanagement war 1986 die400-Milliarden-Dollar-Gren-ze erreicht. In den folgenden Jahren stagnierten die Schulden bei et wa 440

Milliarden. Erst 1991 machten sich die Schul-denswaps so weit bemerkbar, daß die Schulden erstmals sanken, und zwar auf 426 Milliarden Dollar! Heuer greifen - auch für Brasilien - die langfristigen Schuldenregelungen, sodaß aus finanztechnischer Perspektive die Schuldenfrage gelöst ist -ohne daß allerdings die Schulden an sich verschwinden.

Brasilien und Lateinamerika kann der Vorwurf nicht erspart bleiben, daß die achtziger v*" Jahre tatsächlich zur

„verlorenen Dekade" verkamen, weil nicht kreative Anstrengungen, sondern Larmoyanz die Reaktion waren. Erst 1989 - kurioserweise im Jahr des Zusammenbruchs der Sowjetunion - wurde in den Schlüsselstaaten der Region mit der Demontage des cepalinischen In-terventor-Staates begonnen, und der neoliberale Umbau in die Praxis umgesetzt.

Während der Jahre des Zuwartens verarmten die Bevölkerungen und verlor Lateinamerikas Industrie-Kapazität den technologischen Biß. So steht der Region in den neunziger Jahren viel Aufholarbeit bevor. Ob Brasilien, früher von Henry Kissinger gern als die Großmacht der Zukunft bejubelt, diese Leistung überhaupt noch schaffen kann, bleibt offen.

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