6958480-1984_39_09.jpg
Digital In Arbeit

Zehn Thesen zum Frieden

Werbung
Werbung
Werbung

1. These: Nach einer Periode heißer, dann kalter Kriege und schließlich einer Periode der mehr schiedlichen als friedlichen Koexistenz zwischen den Religionen stehen wir heute am Anfang einer vierten neuen Epoche der Proexistenz, vor dem langsamen Erwachen eines globalen ökumenischen Bewußtseins und am Beginn eines ernsthaften Dialogs der Weltreligionen.

2. These: Ökumene darf sich nicht auf die Gemeinschaft der christlichen Kirchen beschränken, sie muß die Gemeinschaft der großen Religionen einbeziehen.

3. These: Die religiösen, sittlichen, ästhetischen Werte von Milliarden Menschen außerhalb des Christentums können und dürfen von der christlichen Theologie nicht länger ignoriert werden. Umgekehrt kann aber auch die Religionswissenschaft auf Dauer den normativen Fragen nach Wahrheit und Werten in den Religionen nicht länger ausweichen.

4. These: Religion ist die in einer Tradition und Gemeinschaft sich lebendig vollziehende (in Lehre, Ethos und meist auch Ritus) sozial-individuell realisierte Beziehung zu etwas, was den Menschen und seine Welt übersteigt oder umgreift: zu einer wie immer zu verstehenden allerletzten wahren Wirklichkeit (das Absolute, Gott, Nirwana). Im Unterschied zur Philosophie geht es in der Religion um Heilsbotschaft und Heilsweg zugleich.

5. These: Kein Frieden unter den Völkern dieser Welt ohne einen Frieden unter den Weltreligionen. Kein Frieden unter den

Weltreligionen ohne einen Frieden unter den christlichen Kirchen. Die Kirchenökumene ist integraler Teil der Weltökumene: der Ökumenismus ad extra und der Ökumenismus ad intra sind interdependent.

6. These: Die Religionen, das Christentum, die Kirchen können nicht sämtliche Konflikte der Welt lösen oder auch nur verhindern, aber sie können das Maß an Feindschaft, Haß und Unversöhn-lichkeit verringern, indem sie für Verständigung und Versöhnung zwischen yerfeindeten Völkern eintreten und indem sie wenigstens diejenigen Konflikte aus der Welt zu schaffen beginnen, deren Ursache sie selber sind.

7. These: Beim interreligiösen Dialog hat der christliche Theologe den schwierigen Mittelweg zu gehen zwischen Absolutismus, der die eigene Wahrheit absolut setzt, und einem Relativismus, der alle Wahrheit relativiert und alle Werte und Maßstäbe ver-gleichgültigt. Weder ein Exklusivitätsstandpunkt, der die nichtchristlichen Religionen und ihre Wahrheit global verurteilt, noch auch ein Superioritätsanspruch, der die eigene Religion als die von vornherein bessere ansetzt, hilft heute weiter. Genausowenig haltbar aber ist ein Beliebigkeitspluralismus, der undifferenziert die eigene und die anderen Religionen billigt und bestätigt, oder ein

Indifferentismus, der bestimmte religiöse Positionen und Entscheidungen von der Kritik ausnimmt.

8. These: Für die christliche Theologie sollte gelten: die Grenze zwischen Wahr und Falsch verläuft nicht mehr einfach zwischen Christentum und den anderen Religionen, sondern zum Teil mindestens innerhalb der jeweiligen Religionen. Nichts Wertvolles soll in den anderen Religionen negiert, aber auch nichts Wertloses unkritisch akzeptiert werden.

9. These: Eine Gleichheit aller Religionen läßt sich schon von der Grundunterscheidung zwischen mystischer und prophetischer Frömmigkeit her nicht behaupten. Mit der religiösen Geschichte der Menschheit hängt zwar alles zusammen, aber fällt nicht alles in eins: nicht eine Identität ohne Differenzen, sondern eine Interde-pendenz mit allen möglichen Divergenzen und Konvergenzen.

10. These: Ziel des interreligiösen Dialogs ist weder das Zusammensetzen verschiedener Elemente aus verschiedenen Traditionen in rein äußerlicher Harmonisierung noch eine Vermischung von Göttern und Verschmelzung der Religionen. Ziel ist vielmehr ein dialektisches „Aufheben" der Gegensätze in innerer Vermittlung, die zugleich Bejahung, Verneinung und Ubersteigen der gegensätzlichen Positionen einschließt. Voraussetzung einer solchen dialektischen Vermittlung ist die Anerkennung der anderen Religionen als gleichwertiger und gleichberechtigter Dialogpartner.

Der Autor ist Vorstand des Institutes für Ökumenische Forschung der Universität Tübingen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung