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Zeichen des Aufschwungs

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FURCHE: Herr Präsident, Sie sind in einer Zeit zum Staatsober- haupt gewählt worden, in der die Traumata der ungarischen Gesell- schaft - wie der allgemeine Werte- verlust, das Zerbrechen der Solida- rität - besorgniserregende Ausma- ße annehmen.

ÄRPÄD GÖNCZ: Ja, es ist fast unmöglich diese Traumata auf ein- mal aufzuzählen. Die ungarische Gesellschaft ist zweifelsohne krank. Ich glaube aber, daß unter entspre- chenden Bedingungen - die wir allerdings noch schaffen müssen -, wo die Menschen sich zu Hause fühlen können, die Fähigkeiten und Kräfte der Selbstgenesung stärker in den Vordergrund treten werden. Vorläufig haben wir aber den Tief- punkt erreicht; die Menschen ver- fügen über kein Zukunftsbild.

Ich gehe aber davon aus, daß sie, sobald sie die ersten Zeichen des Aufschwungs wahrnehmen, auch die Begeisterung aufbringen wer- den, die wir jetzt bemängeln müs- sen. Da werde ich, nehme ich an, wieder Zeuge eines „ungarischen Wunders". Zwei habe ich schon erlebt und ich bin ein unheilbarer Optimist. Bis zu fünfzig Prozent hat sich mein Optimismus bisher immer bestätigt.

FURCHE: Ihr Optimismus ist wirklich bewundernswert, wenn man bedenkt, daß im Herbst 1957 mehrere hundert Literaten ein Manifest unterzeichneten, in dem die Niederschlagung des Aufstan- des durch die sowjetischen Trup- pen begrüßt wurde. Die Mehrheit der Autoren hatte sich ein Jahr davor noch aktiv an der Revolution beteiligt. Sie selbst saßen damals schon mit lebenslanger Haftstrafe im Gefängnis.

GÖNCZ: Nun, mit so einer Strafe ist es nicht schwer, ein tadelloser Held zu sein. In der „idyllischen Ruhe" meiner Zelle war ich ja nicht vor die Wahl gestellt, verhaftet zu werden oder aber weiterhin in der Freiheit zu leben. Im Gegensatz zu manchen Unterzeichnern wurde auf mich auch kein Druck ausgeübt. Vielen hat man damals nämlich gesagt, mit ihrer Unterschrift könn- ten sie das Leben der eingekerker- ten Kollegen retten. Da aber meine Lage damals schon eindeutig war, fühle ich mich nicht berechtigt, über andere moralische Urteile zu ver- künden.

FURCHE: Herr Präsident, Sie gelten als ein überzeugter Verfech- ter der europäischen Integration. Welche Chancen sehen Sie dabei für Ungarn?

GÖNCZ: Geographisch gesehen befindet sich Ungarn in Mitteleu- ropa. Das Fehlen von reinen Natio- nalstaaten in dieser Region wirft Probleme auf, die dringend gelöst werden müssen. Was not tut, ist in vieler Hinsicht ein neues Ge- schichtsbewußtsein; eine Art neues europäisches Bewußtsein. Ich gehe davon aus, daß Ungarn in dieser Beziehung schon einen gewissen Vorsprung hat. In diesem Teil des Kontinents hat man nämlich fürs europäische Dasein immer kämp- fenmüssen. Das Wort „europäisch" beinhaltet hier einen Wert und keine geographische Lage. Dies ist bei den Tschechen oder den Polen genauso der Fall wie bei uns.

Zum europäischen Neubeginn können wir also sowohl mit den Ansätzen zu einem neuen Bewußt- sein als auch mit alten Werten bei- tragen. Es geht dabei um eine ge- genseitige Integration. Ich habe keine Minderwertigkeitsgefühle weil ich ein Ungar bin.

FURCHE: Ist Ihrer Ansicht nach auch Rumänien in der Lage, diesen Beitrag zum europäischen Neube- ginn zu leisten?

GÖNCZ: Wir erleben gerade den Anfang der rumänischen Revolu- tion. Ich finde, daß dort genau der- selbe Prozeß in Gang gekommen ist, wie das in all den anderen Ländern dieser Region der Fall war. Infolge der historischen Traditio- nen und der komplizierten Lage - die der Tatsache des Vielvölker- staates entspringt -, findet Rumä- nien seinen Weg freilich etwas schwieriger. Sein Platz ist aber in Europa.

FURCHE: Angesichts dervon der rumänischen Regierung geschürten Gegensätze zwischen den Nationa- litäten und des ebenfalls von der Führung initiierten Terrors gegen die friedliche Bevölkerung ist es allerdings fraglich, wohin Rumä- niens Weg in nächster Zukunft führen wird.

GÖNCZ: Genau dorthin, wohin der ungarische Weg geführt hat. Bei uns war sicherlich einiges leich- ter; Ungarn hat die Revolution in zwei Stufen durchgemacht. Rumä- nien dagegen hat gerade die erste Stufe erreicht und es ist nicht aus- geschlossen, daß dem Land noch ein längerer Weg zur Demokratie bevorsteht.

Unser südöstlicher Nachbar macht einen Prozeß durch, der im Grunde ein einheitlicher Prozeß mit unterschiedlichen Phasen ist.

FURCHE: Im Falle Rumäniens unterscheidet sich aber die Realität von den Prinzipien, von denen Sie ausgehen.

GÖNCZ: Das Organisationsprin- zip des neuen Europa ist und bleibt die Frage der Menschenrechte. Ihre restlose Verwirklichung bedeutet sozusagen die Eintrittskarte. Dies wird auch von Rumänien erkannt werden. Die größte Nationalität in unserem Nachbarland ist die unga- rische. Sowohl für die Welt als auch auch für die Rumänen selbst muß die Sicherung der kollektiven und individuellen Rechte der Minder- heiten den Prüfstein des demokra- tischen Denkens und des Europäer- tums bedeuten.

Mit Ärpäd Göncz, 1922 geboren, Schriftstel- ler, wegen revolutionärer Tätigkeit 1958 zu le- benslanger Haftstrafe verurteilt, 1964 mit Amne- stie freigelassen, jahrzehntelang als Übersetzer tätig, Mitglied des liberalen Bundes Freier De- mokraten, Vorsitzendemdes Schrifstellerverban- des, am 3. August vom Parlament zum Staats- präsidenten gewählt, sprach Gabor Kiszely.

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