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Zeit-Betrachtung

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„Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie.” (Hugo von Hofmannsthal, Der Rosenkavalier) „The time is out of Joint” (William Shakespeare, Hamlet)

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„Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie.” (Hugo von Hofmannsthal, Der Rosenkavalier) „The time is out of Joint” (William Shakespeare, Hamlet)

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Ich verbrachte meine Kindheit auf dem Land. Die Sommerferieri waren endlos lang und heiß, so will es die Erinnerung, und zu den wenigen aufregenden Unterbrechungen des gleichförmigen Alltags gehörten meine Besuche am Hof der Großmutter, wenn dort Getreide gedroschen wurde. Ein Dampfkessel, der frappant einer Lokomotive, diesem ersten Symbol modernen Tempos, ähnelte, betrieb die riesige Dreschmaschine.

Vom Ort, in dem ich wohnte, zum Hof meiner Großmutter waren es etwa vier Kilometer, die ich, wenn mich nicht gerade ein des Weges kommendes Pferdefuhrwerk ein Stück mitnahm, zu Fuß zurücklegte. Barfuß selbstverständlich. Verkehr gab es praktisch keinen, auch kann ich mich nicht erinnern, irgendwelchen Leuten begegnet zu sein. Ich hatte also Muße, meinen Gedanken nachzuhängen.

Auf halbem Wege passierte ich eine Kapelle, deren Besonderheit in dem Spruch bestand: „Wir leben so dahin und nehmen nicht in acht, daß jeder Augenblick das Leben kürzer macht.” Ich muß etwa acht Jahre alt gewesen sein, als mich dieser Spruch zum ersten Mal „getroffen” hat. Er war mei-. ne erste bewußte Konfrontation mit der Vergänglichkeit, das heißt dem Tod. Nach so vielen Jahren ist mir noch mein damaliges Erschrecken und Sinnieren bewußt. Ich begann von der Kapelle wegzulaufen, um Zeit zu gewinnen, blieb jäh stehen, um zu horchen, ob vielleicht auch die Zeit stillstand, dann wieder stellte ich mir mein Leben als eine lange Schnur vor, von der jeden Augenblick mit einer Schere ein Stück abgeschnitten wurde: jetzt und jetzt und jetzt...

Einige Jahre hindurch blieben Kapelle und Spruch Marksteine dieses Weges wie des kindlichen Denkens, wobei Angst und Faszination eine untrennbare Einheit bildeten.

Zeit-Verhältnisse

Inzwischen wissen wir alle, daß die Zeit nicht „vergeht”, sondern die „vierte Dimension” bildet. Ich glaube da der Wissenschaft; beeindruckt -wie der Spruch vor 45 Jahren - hat mich diese Erkenntnis freilich nicht. Nach wie vor erlebe ich Zeit als „das nicht umkehrbare, nicht wiederholbare Nacheinander, das manifest, erfahrbar beziehungsweise bewußt wird als Aufeinanderfolge von Veränderungen und Ereignissen in Natur und Geschichte”. Also „vergeht” die Zeit doch: sie „verrinnt”, „schwindet”, „drängt”, „läuft davon”, sie „ist um”, „vorbei”. Manche sterben „vor der Zeit”. Wir können Zeit „gewinnen”, „opfern” oder „vergeuden”. Sprache verrät unser Verhältnis zu ihr.

Mit der Zeit täuscht man sich auch über die Zeit. Rückblickend werden Kindheit und Schulzeit häufig zu „goldenen Zeiten”, das Schlimme wird vergessen und allein Schönes erinnert. Nur einige Schriftsteller mit bösen Erfahrungen und gutem Gedächtnis pflegen ihre Verwundungen. Im allgemeinen aber heilt die Zeit.

Wir empfinden Zeit auch wie Ware, so „haben” wir sie oder nicht, lassen sie „knapp” und „kostbar” werden, wir „finden” und „verlieren” sie. Ein Schirennläufer kann sich oft nicht erklären, wo er auf drei Kilometern Länge die eine Hundertstel Sekunde verloren hat, die ihm zum Sieg fehlt, und berechtigt klagt er: „Time is money”.

Aber auch im Alltag läuft einem immer wieder die Zeit davon, zum Beispiel bei Schularbeiten. Daneben gibt es Stunden, die ziehen sich wie Strudelteig. Das Warten beim Zahnarzt etwa verdoppelt die Qual, eine Reitstunde hingegen vergeht im Galopp. Bekanntlich unterscheidet sich subjektives Zeitempfinden von objektiver Zeitmessung. Ein Blick aufs Handgelenk beweist dies täglich. Einmal ist die Zeit stehengeblieben, das andere Mal verschwunden. Immer mehr Menschen leiden an der Zeit. Drückte früher manchen der Schuh, so heute viele die Zeit.

Sklaven der Zeit

Erwachsene begegnen der flüchtigen Zeit mehr und mehr mit einem „Timer”, neuerdings elektronisch. Trifft man einen derart ausgestatteten Freund und möchte ihn auf ein Glas Wein einladen, so sagt er „Moment”, greift in die Brusttasche nach dem „Organizer”, um mit gerunzelter Stirn eine mich stets aufs neue verwirrende Tastatur zu befragen, ob ihm die Zeit diesen Seitensprung erlaubt. Ja, ja, die Zeit ist eine gar strenge Dame und hält ihre Diener an kurzer Leine.

Kürzlich habe ich ohne Interesse gelesen, daß die Sonnenzeit pro Jahr eine ganze Sekunde hinterherhinkt, Atomuhren hingegen fünfzigtausend-mal genauer gehen. Ohne zu untersuchen, hinter wem hier hergehinkt wird, relativiert sich natürlich die Frage der Pünktlichkeit. Soll man weiterhin Schüler ins Klassenbuch eintragen, wenn sie erst nach dem Läuten in der Klasse eintreffen, und sie maßregeln, oder ist das im Hinblick auf die Aussichtslosigkeit wirklicher Präzision auch schon egal? An manchen Schulen, höre ich, müsse man überhaupt froh sein, wenn an bestimmten Tagen fünfzig Prozent der Schüler ihre Klasse erreichen. Da ist es dann eher angebracht, Verspäteten mit Schiller erleichtert zuzurufen: „Spät kömmt ihr, doch ihr kömmt!” Früher galt Pünktlichkeit als Höflichkeit der Könige. Diese sind in unserem Jahrhundert freilich rar geworden.

Früher war es allerdings leichter, pünktlich zu sein. Im Mittelalter konnte sich ein Romeo mit seiner Julia zum Beispiel für die Zeit der langen Schatten verabreden, und die beiden haben einander gewiß nicht verfehlt. Heute zeigt den Grad der Zuneigung die Rollex an. Noch fünf Minuten, und dann kann er mich gernhaben...

Unsere moderne Welt ist auf zeitlicher Präzision aufgebaut. Wir kontrollieren sie am Fahrplan, mit der Stechuhr, der Pausenglocke und so weiter. Das Berufsleben ist davon geprägt, der Privatbereich nicht ausgespart. Längst werden sogar für den Urlaub „Tagespläne” angeboten. Vom Joggen, zu dem der Wecker ruft, bis zum „Flirtkurs” am späten Abend organisieren geviefte Reiseveranstalter unseren Tagesablauf.

Da denke ich an die Barfußwanderung meiner Kindheit zurück. Vielleicht sollte man in den kommenden Ferien sein Verhältnis zur Zeit wieder einmal überdenken. Vielleicht ist es an der Zeit, vielleicht höchste Zeit, und Zeit hätte man ja, im Urlaub.

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