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Zeit des überzüchteten Spezialisten ist vorbei

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„Mancher Zeitgenosse hat in der komplex gewordenen Menschenwelt von heute die Orientierung verloren, manch einem ist sogar der Sinn des Lebens fraglich geworden. Eine Neubesinnung auf zeitgemäße Denk- und Wertstrukturen scheint fällig. Hierin liegt eine Herausforderung, die sich auch an die Politik und die Politiker richtet“, schreibt der Wiener Rechtsanwalt Dr. H. Christof Günzl, im Österreichischen Akademikerbund für die Ideologiediskussion zuständig, in einer Sammlung von Essays zur politischen Philosophie des Salzburger Programms der ÖVP. Wir bringen hier einen Auszug aus dem Kapitel über die Probleme der Bildungsreform.

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„Mancher Zeitgenosse hat in der komplex gewordenen Menschenwelt von heute die Orientierung verloren, manch einem ist sogar der Sinn des Lebens fraglich geworden. Eine Neubesinnung auf zeitgemäße Denk- und Wertstrukturen scheint fällig. Hierin liegt eine Herausforderung, die sich auch an die Politik und die Politiker richtet“, schreibt der Wiener Rechtsanwalt Dr. H. Christof Günzl, im Österreichischen Akademikerbund für die Ideologiediskussion zuständig, in einer Sammlung von Essays zur politischen Philosophie des Salzburger Programms der ÖVP. Wir bringen hier einen Auszug aus dem Kapitel über die Probleme der Bildungsreform.

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Die Bedeutung der Bildungspolitik für die Zukunft von Staat und Gesellschaft ist evident, dennoch werden die grundsätzlichen Entwicklungen und Strategien in diesem Bereich von der Öffentlichkeit nicht in angemessener Weise erfaßt oder registriert. Gegenstand der Diskussion sind zwar die Gesamtschule und die Fünftagewoche, nicht aber die Büdungsphilosophie und die Problematik der Bildungsziele.

Die linken Bildungspolitiker betreiben eine zunächst als „kritisch“ und „emanzipatorisch“ bezeichnete Pädagogik. Diese geht von der totalen Machbarkeit des Menschen aus und glaubt daher an die Möglichkeit einer radikalen Gesellschaftsveränderung. Dabei wird zunächst die „Emanzipation“ zum gestaltenden Prinzip der Gesellschaft erklärt. Die Verneinung alles Bestehenden wird als Ziel vorausgesetzt. Alle Bindungen werden negiert, ohne daß eine kritische Prüfung des Bestehenden überhaupt nur erwogen wird. So wird Kritik zu einer B estätjgj M jVorurteile,; į ,3 , j ,) ,.

In den Bildungszielen finden die Werthaltungen und die WeKanscnau- ung einer Kultur, einer Gesellschaft oder einer politischen Gemeinschaft ihren Ausdruck. Um Bildungsziele zu verändern, muß also deren ideologische Grundlage verändert werden. Ideologien lassen sich aber nicht durch bloße Negation überwinden, sie können nur aufgehoben werden durch ideologische oder weltanschauliche Alternativen, die sich auf Werte gründen, denen ein übergeordneter Rang zuerkannt werden kann oder muß. Wir erleben gegenwärtig eine weltgeschichtliche Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, daß die neu entstandenen Probleme des Menschengeschlechts, etwa die Schaffung einer friedlichen Weltordnung oder die Rettung des ökologischen Gleichgewichts auf unserem Planeten, nur noch durch weltweite Zusammenarbeit gemeistert werden können, daß also die Integration aller Völker und Rassen, aller Sozialsysteme und Wirtschaftsordnungen, aller Kulturen und Religionen zu der organischen Einheit der Menschheit Voraussetzung des Überlebens der Gattung homo sapiens geworden ist. Um diese Aufgabe zu lösen, sind aber integrative Denkweisen notwendig.

So zeichnet sich in der geistesgeschichtlichen Entwicklung unserer Tage ein Evolutionssprung ab, der darin besteht, daß das mengentheoretische Denken, welches die Ganzheit nicht erfassen kann, sowie auch das dialektische Denken, welches den Kampf der Gegensätze als einzigen Antrieb der Weltgeschichte sieht, durch ein integratives Denken abgelöst werden, durch eine Denkstruktur, die nicht in Summen, sondern im System denkt und die die Aufhebung von Gegensätzen auf höherer Seins-Ebene erreicht.

Die Grundwerte, nach denen die Bildungspolitik zu orientieren ist, sind: Der Mensch als Person, die Gesellschaft als partnerschaftliches System und die natürliche Umwelt als ein ökologisches System. Jeder dieser drei Grundwerte besitzt eigenständiges Sein, keiner läßt sich aber ohne Rücksicht auf die Zusammenhänge mit den anderen Werten definieren. Es muß also die Synthese dieser drei Grund werte hergestellt werden, was nur durch Anwendung integrativer Denkformen möglich wird.

Die Zeit des überzüchteten Spezialistentums ist vorbei. So wichtig das Spezialwissen ist, so gefährlich ist die einseitige Spezialausbildung. Sie verliert den großen Zusammenhang aus den Augen, der das Geschehen in der Natur und in der Gesellschaft bestimmt. Solche Einseitigkeit begünstigt falsche Schlußfolgerungen und falsche Urteile. In vielen Fällen wagt es der Spezialist nicht, sich mit Fragen zu befassen, die nicht in den Rahmen seines Spezialgebietes fallen; er ist ein torsohafter Mensch, dessen Lebenswerte die seines Spezialgebietes sind; so kommt es zu einer Auflösung der inneren Wertordnung, und das Bewußtsein der Verantwortung für das Ganze geht verloren, damit aber auch das Gefühl für Recht und Unrecht.

Der Spezialist, und gerade er, muß daher neben seinem Spezialwissen eine gediegene Allgemeinbildung besitzen und immer danach streben,

; .n jInüibauA ririßn h.-iadauK ifeansKCijä sein Spezialgebiet in den großen Zusammenhang der Dinge hineinzustellen. Integrale Denker, die befähigt sind, zwischen den Spezialgebieten der Wissenschaft und der Technik Brücken zu schlagen, finden immer umfangreicheren Einsatz. Nicht die reinen Spezialisten, sondern diese geistigen Brückenbauer sind heute im besonderen Maß Träger des geistigen Fortschritts.

Einige Problemkreise, die sich bei der Realisierung der Bildungsziele ergeben:

• Auswahl und Integration des Bildungsstoffes unter Berücksichtigung der Praxis,

• Konsequenzen aus der Ungleichheit der Erbinformation,

• Erziehung zur Partnerschaft schon in der Schule,

• Lernen lernen.

Aus der Fülle des heutigen Wissensstoffes den Lehrstoff auszuwählen und die zu vermittelnden Lehrinhalte dann so zu integrieren, daß jener mündige Mensch herangebildet werde, „der Entscheidungen verantwortlich zu treffen vermag und nach einem begründeten Weltbild und Wertsystem zu leben versteht“, kann nur gelingen, wenn Klarheit über das Bildungsziel besteht und wenn integrative Denkweisen angewendet werden.

Das Bildungsniveau der Gesellschaft hat enorme politische, insbesondere auch gesellschaftspolitische Bedeutung; Bildung besitzt aber auch - und das nicht weniger - Selbstwert für den Menschen als Person.

Bildung bezieht sich auf den „ganzen Menschen“, auf seinen Verstand, an:3 lue iisivitelsi z,oASitntodoü.

sein Gefühl und auch auf sein Handeln. Im gegenwärtigen Bildungswesen wird der Verstand bevorzugt, Gefühl und praktisches Handeln werden vernachlässigt. Aber auch die Bildung des Verstandes weist Mängel auf: Der Schüler bekommt eine Menge Wissen additiv vermittelt; er lernt jedoch kaum, die komplexe Wirklichkeit in ihren Zusammenhängen zu erfassen.

Dem Schüler fällt es immer schwer, den Stoff zu behalten, weil isolierte Faktoren weniger leicht im Gedächtnis haften bleiben als in Assoziationsketten eingegliederte und zusammenhängende Inhalte. Der Lehrstoff muß also besser integriert und es muß der übergeordnete Sinnzusammenhang aufgezeigt werden. Auch in der Lehrerausbildung sind Querverbindungen herzustellen, damit der Kandidat erkennt, welchen Platz sein Lehrfach im Zusammenhang der Wissenschaften einnimmt.

Wie neueste Forschungsergebnisse etwa von Eysenck oder Herrnstein nachgewiesen haben, ist die Intelligenz eines Menschen weitgehend durch seine Erbinformation festgelegt. So sei die Intelligenz zu 80 Prozent durch Vererbung bestimmt und lasse sich nur zu 20 Prozent durch Umwelt und Erziehung formen. Diese Erkenntnis widerlegt die These der linken Pädagogik, daß alle Menschen die gleiche erbliche Ausstattung mitbekommen hätten und unbegrenzt konditionierbar seien. Nach linker Auffassung kann Begabung „gemacht“ werden,. wenn man nur das Erziehungswe- sen entsprechend reformiert. Die linke Pädagogik geht also von falschen Voraussetzungen aus. Ihre Ergebnisse liegen daher weit unter den Erwartungen.

Aus der Tatsache, daß die Intelligenz und verschiedene andere Persönlichkeitsmerkmale des Menschen durch seine Erbinformation festgelegt sind, darf freilich nicht gefolgert werden, man müsse solche Verschiedenheiten eben als Schicksal hinnehmen. Gerade die Erkenntnis der anlagemäßigen Verschiedenheit der Menschen ist Voraussetzung dafür, daß kompensatorische Erziehungsmaßnahmen sinnvoll eingesetzt, daß also jene Lebenschancen, die durch die Erbstruktur vorgegeben sind, optimal entwickelt werden können.

Unsere Bildungsziele können nicht im Wege von Konfliktstrategien, wie sie eine linke Pädagogik anwendet, sondern nur durch partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Eltern, Lehrern und Schülern erreicht werden.

Die Eltern sollten mehr in das Schulgeschehen integriert werden. Sie sollten immer daran denken, daß sie für die Erziehung ihrer Kinder die primäre Verantwortung tragen. Manche Eltern können, zum Teil wegen des eigenen ungenügenden Bildungsniveaus, zum Teil wegen ihrer beruflichen Belastung dieser Verantwortung nicht voll gerecht werden. Die Schulen müssen daher Erziehungsaufgaben in erhöhtem Maße wahrnehmen. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, müßten Bildung und Aufklärung der Eltern verbessert werden.

In 30 Jahren wird viel von dem, was heute in den Schulen gelehrt wird, veraltet sein. Es wird dann notwendig sein, sich Kenntnisse angeeignet zu haben, von denen wir heute noch kaum etwas wissen. Wir müssen heute also auch „Lernen lernen“. Das ist nicht nur eine Frage der Lemtechnik, sondern setzt auch die Fähigkeit voraus, die stets anwachsende Menge des Bildungsstoffes und der Information, der heutigen wie der zukünftigen, so zu sichten und zu ordnen, daß ein Gesamtbild entsteht, das es dem Lernbeflissenen ermöglicht auszuwählen, was an neuem Wissensstoff er sich zum Zweck des beruflichen Fortkommens und der personalen Selbstverwirklichung anzueignen hat.

Der Mensch muß also die wachsende Menge der auf ihn einströmenden Informationen zu einem einigermaßen widerspruchsfreien System zusammenordnen. Dazu muß er aber einen übergreifenden Sinnzusammenhang hersteilen können; er muß das übergeordnete Ganze erfassen, in welchem die einzelnen Informationen und Erfahrungen ihren sinnvollen Platz finden. Es liegt auf der Hand, daß es hiezu integrativer Denkweisen bedarf.

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