7037324-1990_02_10.jpg
Digital In Arbeit

Zeit für sanfte Chemie

Werbung
Werbung
Werbung

In den modernen Chemiebetrie- ben lauert zweifelsohne ein ähnlich hohes Gefährdungspotential wie in den umstrittenen Atomanlagen. Daß Störfälle in der Chemie kata- strophale Ausmaße annehmen kön- nen, ist längst eine Binsenweisheit. Seveso, Bophal, Sandoz - das tödli- che Roulette dreht sich weiter...

Dennoch: Chemiepolitik, das heißt die Entscheidung darüber, was in welcher Art und Menge produziert wird, findet nur hinter verschlossenen Türen statt. Herge- stellt und vermarktet wird, was Gewinn verspricht, ohne Rücksicht auf die Folgen. Die schleichende Vergiftung unserer Lebensgrund- lagen geschieht nach wie vor durch den massenhaften Verbrauch von problematischen Chemikalien: Asbest, Atrazin, Dioxin, FCKW, Formaldehyd, PCB, Pentachlor- phenol, Perchloräthylen, Pestizide und PVC, Waschmittel und Weich- spüler sind zu Synonymen der fort- schreitenden Chemisierung gewor- den.

Öko-Experten haben längst die Problemfelder analysiert und al- ternative Szenarien zur soge- nannten „Harten" Chemie entwik- kelt. Wir können uns in der künfti- gen Entgiftungs-Debatte nicht mehr damit begnügen, einzelne Stoffe zu verbieten oder die Wahr- scheinlichkeit des nächsten Stör- falles exakter vorauszuberechnen. Ein ökologisches Sofortprogramm muß gleichzeitig auf mehreren Ebenen wirksam werden:

In den Betrieben:

• Umweltschutz als Strategieziel gleichberechtigt neben den ande- ren Unternehmenszielen (Gewinn, Markterschließung) verankern

• Durchsetzung des letzten „Stan- des der Technik"

• Einführung der „Umwelt-Boni- tätsprüfung", das heißt Nachweis der Umweltverträglichkeit der Produktion gegenüber der Öffent- lichkeit

• ökologische Produktentwick- lung, das heißt Ausschluß pro- blematischer Roh- und Hilfsstoffe, Entwicklung integrierter Herstel- lungstechnologien, Minimierung der Verpackung, Übernahme der „Entsorgungs Verantwortung" durch den Hersteller

In der Verwaltung:

• Aufbau einer landesweiten öko- logischen Betriebsberatung mit nachweislicher Erfolgskontrolle

• klare Richtlinien für ein um- weltfreundliches Beschaffungs- wesen (das betrifft alle öffentlichen Institutionen wie Schulen, Univer- sitäten, Spitäler und so weiter)

Im Parlament:

• Chemiepolitik nach klaren öko- logischen Prioritäten

• Erarbeitung von Zeitstufenplä- nen zur Substitution von Pro- blemstoffen mit gleichberechtigter Beteiligung von Umweltgruppen und kritischen, unabhängigen Experten

• Einführung von Ökosteuern et cetera.

Die chemische Industrie wird künftig mit verschärften Emissi- ons- und Produktkontrollen kon- frontiert sein. Die Herstellung von Agrochemikalien und syntheti- schen Düngemitteln muß vernünf- tigerweise drastisch eingeschränkt werden. Die Chlor-Alkali-Industrie wird genötigt sein, auf alternative Produktionsmethoden umzustellen. Wirklich umweltorientierte Firmen werden zweifelsohne an Bedeutung gewinnen.

Bei den großen Chemiekonzer- nen wird eine konsequente Ent- giftungsstrategie zu einem Umbau ihrer gesamten Produktpalette führen müssen, zur Einstellung und zum Abbau gefährlicher Verfah- ren, giftiger, krebserzeugender, erbschädigender und zu Mißbildun- gen führender Arbeitsstoffe und Zwischenprodukte, zur Aufgabe alter und zum Aufbau neuer Ge- schäftszweige.

Die Macht der Gewohnheit und die politischen Einflüsse stehen der Veränderung im Wege. Aber das Totschlag-Argument, „wenn sich die Großen nicht kräftig bewegen, bleibt sie Sanfte Chemie in schüch- ternen Ansätzen stecken", ist nur teilweise richtig. Denn während die Multis weiterhin auf „High-Chem" setzen, besetzen neue Kleinprodu- zenten die ökologischen Marktni- schen - mit zunehmendem Erfolg. Naturprodukte, so viel steht fest, stoßen auf wachsendes Interesse in der Bevölkerung.

Es geht um gedankliche Klarheit zwischen den Polen Natur und Chemie. Die Herausarbeitung der Unterschiede ist für die Entgif- tungsdiskussion der kommenden Jahre von eminenter Bedeutung. Je mehr wir uns heute den Na- turbegriff vom Machbarkeitswahn der Konzernchemiker verwässern lassen, desto langsamer werden einerseits die bekannten syntheti- schen Umweltgifte aus dem Ver- kehr gezogen und desto schneller werden andererseits neue Risiko- potentiale wie die Gentechnik eta- bliert.

Haben wir schon begriffen, daß die Weiterentwicklung der Bio- technologie für die chemische In- dustrie gleichzeitig die Einstiegs- droge zur gentechnischen Manipu- lation von Mikroorganismen, Pflan- zen und Tieren bedeutet? Neben der (gar nicht so sauberen) Mikro- elektronik und Werkstoff-High- Tech soll die Gen-Technologie das große Zukunftsgeschäft bringen: Impfstoffe gegen Malaria und Gelb- sucht, Bakterienfabriken zur Er- zeugung von Insulin, Wachstums- hormonen, Grundchemikalien und vieles mehr.Dieser Eingriff in die natürliche Evolution und Schöp- fung ist in seinen Folgen derzeit völlig unkalkulierbar und die Fra- ge, ob es ethisch vertretbar sein kann, das „Tabu des Zellkerns großtechnisch zu brechen" ist noch lange nicht ausdiskutiert. Fakt ist, daß zum Beispiel genmanipulierte Bakterien und Viren in den Händen von Militärs zur tödlichen Waffe werden können, sie sind billig, handlich und vielfältig einsetzbar.

Die neuen Biotechnologien sind nach wie vor dem mechanistischen Weltbild der Harten Chemie ver- pflichtet. Ihre Schrittmacher sehen in der Natur einen von mathemati- schen Naturgesetzen beherrschba- ren „Produktions-Automaten" und genau dieser methodische Reduk- tionismus zeigt sich in der spezifi- schen Härte im experimentellen und verfahrenstechnischen Umgang mit der Natur.

Häufig hat „Bio-Tech" mit Sanf- ter Chemie also nur wenig zu tun. Sicher können unter gewissen Umständen einige biotechno- logische Prozeßinnovationen dazu beitragen, bestehende Umwelt- belastungen abzubauen; aber vor- her sollten wir uns darüber einig sein, was Sanfte Chemie bedeutet und unter welchen Randbedingun- gen ihre Vorteile für die Gesell- schaft zum Tragen kommen.

Die Sanfte Chemie baut (ebenso wie die Sanfte Technik) zunächst auf einem völlig anderen Men- schenbild und Wissenschafts- verständnis auf.

Da stehen Fragen wie: Welche Produkte brauchen wir? Welche Nutzungseigenschaften sind für welche Verwendungszwecke not- wendig?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung