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Zeit ohne soziale Partnerschaft

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Geißler beschreibt die Geschichte der österreichischen Kammerorganisation der Zwischenkriegszeit, ohne die Anfänge ebenfalls wie auch die Zeit nach 1945, auszulassen. Es ist an sich erstaunlich festzustellen, daß die Epoche der Ersten Republik Österreich immer bewußter in die Forschungen, nicht zuletzt auch jüngerer Historiker, miteinbezo- gen wird.

Neben dem Interesse für die von den damaligen Österreichern als SchicksalsfrageangeseheneFrage der Lebensfähigkeit des durch St. Germain radikal verkleinerten Staates, wird immer stärker nach Ansätzen gesucht, die nach 1945 zum Teil verwirklicht wurden, so die Sozialisierungen, aber auch die Rolle der Parteien und der Interessenvertretungen.

Landläufige Meinung war es aber bisher, daß gerade die bedeutende Rolle der Kammern für die verschiedenen r Wirtschaftszweige geradlinig zum Ständestaat geführt hätten. Aber das war absolut nicht der Fall: ein Hauptverdienst des vorliegenden Werkes ist der Nachweis, daß die Kammerorganisation gerade durch die Vertreter des Ständestaates besonders gefährdet war.

Der Traum eines Ständestaates mit seiner an mittelalterlichen Vorbildern orientierten Bünden kann mit der Handelskammer, die schließlich eine Unternehmeror- ganisation war und auch heute noch ist, nur mit Mühe ausgeglichen werden.

Die Handelskammern galten als Hort des „Liberalismus“ (bzw. was man eben darunter verstand) und wurden von prominenten Vertretern der damaligen Ära Dollfuß und Schuschnigg verdächtigt; man verstieg sich sogar dazu, die Kammern als Geheim-

Organisation des verbotenen Nationalsozialismus zu bezeichnen. Es hat dann sehr lange gedauert, bis man zu einer vernünftigen Lösung kam.

Interessant ist, wie der noch junge Julius Raab zunächst als Führer des Gewerbebundes heftiger Gegner der Kammern war; er war aber später wesentlich daran beteiligt, einen Ausgleich zwischen den manchmal skurril anmutenden Wünschen der Ständevertreter und der Exponenten der Kammern herbeizuführen.

Die erste Phase der Kammergeschichte reicht von 1920 bis 1932; in dieser Zeit ging es um die Sicherung der Position dieser Interessenvertretung, wobei die Gründung der Arbeiterkammer eine Art Schützenhilfe für den Bestand der Unternehmervertreter darstellte.

Daß es damals noch zu keiner Sozialpartnerschaft kam, rührte von der sich polarisierenden politischen Situation her; die Kam

mer selbst war in der Mitgliedschaft beschränkt, da sich die Großindustrie in der Industriellenvereinigung eine andere Basis geschaffen hatte. Trotz gewisser Ressentiments von Kammern und Großindustrie bestand als gemeinsame Überzeugung ein, wenn auch ziemlich unklarer, Liberalismus.

Daß vom Autor die Schwäche des damaligen Parlamentarismus erkannt wird, ist an sich richtig; es wäre wünschenswert gewesen, daß die Krise der parlamentarischen Demokratie auch aus der Sicht einer Kammer etwas subtiler behandelt worden wäre.

Die größte Krise der Kammer gab es im beginnenden Ständestaat; die Resignation unter den führenden Kammerkreisen wuchs immer mehr, man war bereit, alle möglichen Kompromisse zu schließen.

Zuerst war es Dollfuß selbst, der gegen den Handelskammerkurs eingestellt war, vor allem weil diese den Agrarkurs, d. h. die Bevorzugung einer bauernfreundlichen Politik, scharf angegriffen hatte. Auch der gewerbliche Mittelstand wurde gegen die Kammer aufgebracht. Im Dezember 1935 schien der Tiefpunkt in der Beziehung zwischen Kammer und Staatsführung gewesen sein. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen, die sich in den Personen Streeruwitz, Neustädter- Stürmer und Raab manifestierte.

Allerdings mußte die Regierung unter Schuschnigg der Realität

nachgeben, sodaß man seit 1936 drangehen konnte, die Kammern wieder in ihrer früheren Bedeutung wiederherzustellen und sich sogar an die Gründung einer Bundeskammer heranzuwagen, ein wichtiger Vorgriff auf die Zeit nach 1945.

Mit größter Akribie wird vom Autor der Weg der Organisation verfolgt. Es macht sich schließlich für den Historiker bezahlt, sich durch das nicht ohne Schwierigkeiten zu lesende Werk durchzukämpfen, weil es die Komplexheit besonders der Zeit nach 1932 erst richtig einschätzen lernt.

Der Ständestaat war sowohl ideologisch wie auch machtmäßig kein fester Block, sondern in ihm stritten Sonderinteressen miteinander mehr als die Zeitgenossen sehen konnten. Daß neben dem Ideologienkampf es aber auch um handfeste Argumente ging, wird vom Autor angedeutet: man spekulierte seitens der neuen hündischen Organisation auf das Kammervermögen und plante, oft recht voreilig, die Aufteilung der, allerdings meist überschätzten Kapitalien.

Alles in allem ein wichtiges Werk zur Erkenntnis über die Wirtschaftspolitik dieser Zeit, wenn auch der Wert der umfangreichen Arbeit mehr im Quellenmaterial als in der Art der Darstellung liegt.

ÖSTERREICHISCHE HANDELSKAMMERORGANISATION IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT. Von Franz Geißler, österreichischer Wirtschaftsverlag, Wien 1980. Band 1: öS 378,-. Band 2: öS 660,-.

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