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Zeit und Geist

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Es gehörte eine gehörige Portion Mut dazu, gerade in jenen Wochen vor der Bundespräsidentenwahl, in denen durch eine mutwillige Initialzündung von bestimmter österreichischer Seite eine internationale Pressekampagne ausgelöst wurde, welche letzten Endes dem guten Namen Österreichs Schaden zufügte, ein Buch unter dem Titel „Genius Austriacus“ erscheinen zu lassen. Norbert Leser hatte diesen Mut. Und nicht nur diesen allein.

Der Autor, durch Familientradition und seit seiner frühen Jugend innerhalb der „linken Reichshälfte“ beheimatet, hat sich nie die Scheuklappen parteipolitischen Doktrinarismus aufbinden lassen. Davon zeugt wieder einmal der Inhalt des vorliegenden Sammelbandes, der gleichsam eine Zwischenbilanz der publizistischen und Vortragstätigkeit des bekannten Politologen und profunden Kenners der österreichischen Zeit- und Geistesgeschichte darstellt.

Den oft unkonventionellen Thesen und Überlegungen des Autors ist der aufmerksame Begleiter des Lebens und Schaffens Norbert Lesers schon in verschiedenen Zeitschriften begegnet. Deshalb ist ihm die geistige Nahbeziehung Lesers zu Karl Renner und seinem Werk ebenso bekannt wie die Vorbehalte, die er der Person Otto Bauers entgegenbringt, dessen Einfluß auf die Entwicklung der Ersten Republik er mit Recht als letzten Endes verhängnisvoll einstuft.

Hans Kelsen hat in ihm einen gewissenhaften Porträtisten gefunden, der auch die Schattenseiten im Bild des „Vaters der österreichischen Bundesverfassung“ nicht übertüncht. Kelsen folgte nämlich lange bis in die dreißiger Jahre großdeutschen Gedankengängen und sah für die Donau-und Alpenrepublik, deren Verfassung er mitkonzipiert hatte, keine Aufgabe und daher keine Zukunftsperspektive.

Ernst Karl Winter findet Lesers Hochschätzung nicht nur wegen seines seherischen Blickes für bessere geistige und politische Grundlagen für Osterreich, als diese die Erste Republik zu geben imstande war. Vielmehr fasziniert ihn auch die Unbedingtheit der Persönlichkeit Winters und die Deckung von dessen Lebenswerk durch seine persönliche Anspruchslosigkeit, ja durch seinen Puritanismus: alles Züge, welche man heute weder rechts noch links bei einem sich der Politik verschriebenen Mann entdecken, wird können.

Ignaz Seipel wird bei aller Kritik historische Gerechtigkeit zuteil. Auf keinen Fall ist er für Leser die „Bete noir“ der sozialistischen Geschichtsschreibung. Von aktuellem Interesse ist es, daß Leser auch nicht die gerade in den letzten Wochen bemühte „Ahnenkette“ des mörderischen Antisemitismus der Nationalsozialisten bis auf Karl Lueger und die Christlichsozialen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurückführt.

Was der Autor über Leopold Kunschak schreibt, hat hier allgemein Gültigkeit. „Der Kunschak-sche Antisemitismus, in dem soziale und religiöse Ressentiments mit einer gewissen Fremdenfeindlichkeit und Minderheitenablehnung zusammenflössen, unterscheidet sich vom Hitlerschen nicht nur quantitativ, sondern ist qualitativ durch eine Welt von ihm getrennt“ (Seite 103).

An einer solchen Unterscheidung der Geister könnten sich heute sogar einige Kritiker aus dem innerkatholischen Raum, die mitunter nicht frei von maoisti-schen Anwandlungen sind, ein Beispiel nehmen.

Das alles sind nur einige Hinweise auf Elemente der Leser-schen Gedankenwelt, die wir so gewissenhaft zusammengetragen und sorgfältig aufbereitet zum ersten Mal im vorliegenden Band finden.

Hier begegnen wir aber auch erstmalig einem Norbert Leser, der manchen überraschen wird. In diesem Zusammenhang ist zunächst seine Ehrenrettung für den heute zu Unrecht nicht nur von den Bühnen verbannten, sondern dem allgemeinen Bewußtsein entrückten Anton Wildgans zu erwähnen; dessen soziales Engagement als Dichter und dessen in der Ersten Republik noch sehr einsame, bewußt österreichische Geisteshaltung finden eine längst fällige Würdigung.

In dem Beitrag „Der Geist des Wienerliedes“ hat der Autor die Studierstube, wo wir gewohnt sind, ihn gleichsam an seinem eigenen Denkmal arbeitend anzutreffen, verlassen. Er offenbart sich hier als eifriger Heurigenbesucher und Stammgast des Kaffeehauses von Hans Schmid in der Schulgasse hinter der Wiener Volksoper, wo der inzwischen 88jährige Doyen der Interpreten des Wienerliedes zu Hause ist und wo wir alle den Autor kaum vermutet hätten.

Wahrhaftig: Norbert Leser ist auch für Überraschungen gut! GENIUS AUSTRIACUS. Beiträge zur politischen Geschichte und Geistesgeschichte Österreichs. Von Norbert Leser. Verlag Hermann Böhlaus Nachf., Wien 1986. 306 Seiten. öS 340.-.

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