6828735-1974_26_07.jpg
Digital In Arbeit

Zeit zum Atemholen

Werbung
Werbung
Werbung

Nach einer durchzit'terten Wahlnacht in Niedersachsen lag ein Ergebnis vor, daß Politikern und Kommentatoren jede Interpretation erlaubte. Die Parteistrategen entschieden sich für „Sieg“. Die CDU konnte auf ihren zahlenmäßigen Gewinn verweisen, der allerdings knapp unter der notwendigen absoluten Mehrheit blieb. Die SPD verwies darauf, daß sie nun weiterhin den Ministerpräsidenten in Niedersachsen stellen kann und ihre Verluste geringer als bei den vorangegangenen Landtagswahlen waren. Die FDP, schon vor der Wahl auf eine Koalition mit der SPD festgelegt, durfte sich freuen, wieder in den niedersächsischen Landtag einzuziehen, aus dem sie vier Jahre lang ausgesperrt war. Außerdem steht ihr ein weit über ihrer zahlenmäßigen Stärke liegender Einfluß auf die niedersächsische Landespolitik ins Haus.

Bundespolitisch fiel es nicht mehr so leicht, den Wahlausgang von Niedersachsen zum allgemeinen Erfolg hochzustilisieren. Die CDU hatte ihr Ziel, in Hannover Regierungspartei zu werden, nicht erreicht. Damit fielen alle Hoffnungen, die starke Bun-desratsposition gegenüber der sozial-liberalen Koalition auszubauen,

vorerst ins Wasser. Die SPD muß einräumen, daß ihre Verluste zwar geringer geworden sind, ihr Stimmpotential aber noch immer abnimmt. Die FDP schließlich blieb hinter dem von ihr selbst gesteckten Ziel, mindestens 8,5 Prozent der Stimmen zu erhalten, zurück. Die 7,1 Prozent der Niedersachsenwahl dokumentieren die gefährdete Situation der liberalen Partei.

Wie immer auch die Wahlergebnisse interpretiert wurden, fest stand, daß sie wesentlich vom Kanzlerwechsel in Bonn geprägt worden waren. Dem Parteivorsitzenden Brandt blieb es nicht erspart, noch in der Wahlnacht im Fernsehen erklären zu müssen, daß es mit seiner Partei wieder bergauf gehe, seit er nicht mehr Kanzler ist. Trotz eines relativ bescheidenen Einsatzes im niedersächsischen Wahlkampf hatte der neue Bundeskanzler doch so etwas wie einen „Schmidt-Effekt“ bei den Wählern ausgelöst. Es ist Helmut Schmidt offensichtlich gelungen, den in den letzten Phasen der Brandt-Ära dominierenden Eindruck, die Regierung sei handlungsunfähig, zu beseitigen. Obwohl er noch keine Gelegenheiten hatte, seine Qualitäten unter Beweis zu

stellen, genügte doch sein Auftreten, um einen Teil der an der SPD zweifelnden Wähler zumindest soweit umzustimmen, daß sie meinten, dieser Partei und Regierung doch noch eine Chance geben zu sollen.

Dabei darf die SPD für sich verbuchen, daß es ihr nicht nur gelungen ist, die heikle und peinliche Prozedur eines Kanzlerwechsels ohne größeren Schaden zu überstehen, sondern ihn in kürzester Zeit noch in einen Erfolg umzubuchen. Dabei kam ihr zugute, daß die Taktik der Opposition nicht ebenso schnell geändert werden konnte. Die programmatische Schwäche der Unionsparteien und das Fehlen einer klaren Spitzenpersönlichkeit werden nun im Kampf gegen die Regierung Schmidt deutlich.

Die CDU ist dabei allerdings klug genug, sich den Zeitpunkt für die immer notwendiger werdende Bestimmung eines Kanzlerkandidaten nicht von der SPD bestimmen zu lassen. Sie modifiziert ihre Verschleißpolitik gegenüber der Regierung. Schon im niedersächsischen Wählkampf wurde gegen Schmidt mit dem Hinweis operiert, er habe zur Spitze des gescheiterten Brandt-Kabnetts gehört und dessen Schlamassel mitverursacht. Nun setzt die CDU offensichtlich darauf, daß Schmidt vor allem im Kampf um die Wirtschaftliche Stabilität Verschleißerscheinungen zeigen wird. Erst gegen einen bereits etwas angeschlagenen Schmidt will sie dann ihren Spitzenmann ins Rennen schicken.

Die Niedersachsenwahl mit ihrem offenen Ausgang bringt vorerst ein Atemholen für Regierung und Opposition. Zwar bedeutet sie für die Opposition vorerst einen Abschied von den Gedanken an einen baldigen Machtwechsel in Bonn. Nicht nur, daß ein Sieg bei der Landtagswahl in Hessen für die CDU sehr unwahrscheinlich geworden ist, würde es auch in diesem unwahrscheinlichen Fall nicht mehr möglich sein, eine

Zweidrittelmehrheit im Bundesrat zu gewinnen. Der Gedanke, über das Länderparlament die Regierung lahmzulegen und damit Neuwahlen zu erzwingen, muß von der CDU/CSU aufgegeben werden. Die Unionsparteien erhalten aber damit auch die Möglichkeit, sich personell wie programmatisch solider auf die nächste Bundestagswahl vorzubereiten. Eine Chance, die sie nicht ungenutzt verstreichen lassen sollten, wollen sie die in jüngster Zeit gewonnenen Wähler in den Großstädten nicht wieder verlieren.

Die SPD allerdings steht vor der noch viel schwierigeren Situation, eben diesen Wählertrend zu stoppen und umzukehren. Willy Brandt vermeinte zwar, bereits die Niedersachsenwahl als „Tendenzwende“ bezeichnen zu können. Aber sein Nachfolger Schmidt korrigierte ihn prompt am nächsten Tag. Das Ergebnis von Hannover zeigt nämlich, daß nach wie vor in den SPD-Hochburgen, in den Urbanen Ballungsgebieten, die Wählergunst für die SPD abnimmt. Hier gehen nicht nur Wechselwähler, die in den Glanzzeiten Brandts zur SPD wechselten, wieder zur CDU über.

Gerade in wirtschaftlichen Krisengebieten, wo Arbeiter ihre Arbeitsplätze gefährdet sehen, schwindet das Vertrauen in eine erfolgreiche SPD-Wirtschaftspolitik. Insofern war Niedersachsen besonders charakteristisch. Dieses industriell stark an der Automobilindustrie orientierte Land (VW, Intercontinental-Reifenwerke), erlebt die derzeitige Flaute beson-

ders hart. Die Wahl an der Leine zeigte dabei, daß die Arbeiter in Krisensituationen ihre Interessen nicht mehr ausschließlich von der SPD vertreten sehen, sondern auch Sympathien für eine starke wirtschaftliche Hand entwickeln.

Schließlich zeigte Niedersachsen, daß die SPD nach wie vor mit einem ungeschützten linken Flügel kämpft. Der SPD-Linke Professor Peter von Oertzen, Landesvorsitzender der SPD in Niedersachsen, brachte seiner Partei erhebliche Stimmenverluste bei und verlor diesmal sogar sein Direktmandät in Göttingen an den CDU-Kandidaten. Schmidt versucht seine Partei nun massiv nach links abzuschotten. Gegen die Jusos fallen harte Töne. Sogar zwischen die Regierung und die Partei wird Distanz gebracht, wenn Schmidt sich äußerst kritisch über die Relevanz von Parteitagsbeschlüssen äußert.

Dabei hofft die SPD auf den sogenannten „Tandem-Effekt“ der Ämterteilung zwischen Schmidt und Brandt. Während Schmidt die Regierungsarbeit wieder attraktiver macht, soll Brandt das Image der Partei aufpolieren. Sein Auftreten in Niedersachsen zeigte, daß er für seine Partei noch immer eine starke, wahrscheinlich derzeit unverzichtbare Integrations- und Vaterfigur ist. Ob Brandt auch mit Konflikten in seiner Partei fertig wird, die er als Kanzler nicht unter Kontrolle brachte, muß fraglich bleiben. Ebenso, wie weit die beiden Tandem-Fahrer Schmidt und Brandt einen auf-einanderpassenden Rhythmus finden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung