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Zeitenwende oder Modeerscheinung
Was versteckt sich hinter dem Schlagwort „Wertewandel“—eine Modeerscheinung oder eine Zeitenwende? Meine Antwort lautet schlicht: beides.
In unserem mediengesteuerten Zeitalter wird uns grell auf die Netzhaut projiziert, was sich verändert. Demgegenüber bleibt unbemerkt und unkommentiert, daß sehr viel mehr so bleibt, wie es ist, als sich verändert. Man darf das
Beharrungsvermögen nicht unterschätzen. Bei aller Neuerung bleibt doch die Kontinuität das Wesentliche.
Ohne Zweifel spiegelt der Wertewandel auch ein Stück Mode wider. Solche Moden kommen und gehen in langen Wellen. Was heute in der alternativen Szene gedacht und empfunden wird, ist alles schon einmal dagewesen: die bis zur Wehleidigkeit gesteigerte Sensibilität, die pauschale Ablehnung der Industriegesellschaft, der Rückzug in die Gefühligkeit des eigenen Inneren, die Scheu vor dem Leben, wie es ist.
Das ganze Aussteiger-Syndrom war übrigens meist eine Sache der intellektuellen Elite, weniger eine Angelegenheit der Massen; die Mehrheit blieb unbeeindruckt von den Denkspielen der Minderheit.
Allerdings schlug die Neudefinition der Grundwerte durch die Intelligentsia immer auch durch auf die Grundstimmung der breiten Masse. Heutzutage ist dies besonders deutlich.
Der Wandel der Stimmung und der Werte, den wir neuerdings beobachten, wird hervorgerufen durch die neuen Fakten, nicht bloß durch die intellektuelle Interpretation dieser Fakten. Diese Fakten jedoch sind von existentieller Bedeutung für jeden einzelnen und seine Lebenschancen.
Arbeit, Umwelt, Technik, Krieg und Frieden — sie alle greifen unter den Bedingungen der modernen Welt so tief hinein in das menschliche Leben, in die Vorstellung vom Glück des Individuums und von der guten Ordnung der Gesellschaft, daß die Reaktion auf die neue Wirklichkeit nicht einfach als Modeerscheinung abgetan werden kann. Hier zeichnet sich wirklich eine Zeitenwende ab.
Was bei diesem Umbruch am Ende herauskommen wird? Wir wissen es nicht und werden es noch lange nicht wissen. Wir stehen erst am Anfang einer auf lange Frist abgelegten Denkbemühung. Die alte Ethik reicht nicht mehr aus, eine neue muß erst noch Konturen gewinnen.
Aus dem Wesen der Demokratie ergibt sich zwingend, daß es eine einheitliche Sinnorientierung nicht geben kann und nicht geben darf. Wohl ist ein Minimalkonsens nötig. Aber im pluralen Staat werden wir auch mit einer Plura-lität sittlicher Vorstellungen leben müssen.
Wie könnte denn die neue Wertordnung aussehen? Sie wird sich in ganz unterschiedlicher Richtung bewegen.
Was die private Moral, die Indi-vidualethik anlangt, so wird sich der Trend zum Hedonismus, der in den beiden zurückliegenden Jahrzehnten schon so auffällig hervorgetreten ist, weiter fortsetzen und verstärken.
Das heißt, die Zeitgenossen werden dem Genuß nicht abschwören. Das Geflecht der alten Tugenden wird aufgelockert werden durch neue, sensualistische Neigungen. Und gerade die Jugend wird sich zunehmend an bargeldlosen Werten wie dem Ziel der Selbstverwirklichung orientieren. An die Stelle des Staatsbewußtseins wird mehr Und mehr das Lebensgefühl der Gesellschaft treten.
Auf einem zweiten Feld, dem der Gesellschaft nämlich, dürfte uns eine Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung nicht wundernehmen: eine Entwicklung nämlich hin zu mehr Rigorosität. Das Frisch-und-fröhlich vor-sich-hin-Produzieren ohne Rücksicht auf die sozialen Kosten der Produktion wird ein Ende haben.
Wo das Individuum an Freiheit gewinnen wird, werden die produzierenden Kollektive ein Mehr an neuen Bindungen gewärtigen müssen. Nur so wird sich auf lange Sicht das Gedeihen der Menschen in unbekümmerter Menschlichkeit verbürgen lassen.
Diese beiden Entwicklungen schließen einander nicht aus; sie gehören zusammen als zwei Seiten einer Medaille.
Der Mensch wird in der Entfaltung seiner selbst freier werden, aber er wird seine Aktivität dort begrenzen lassen müssen, wo diese Entfaltung die Unversehrtheit seiner Welt und seines Wesens bedroht. Dies wird, das läßt sich mit einiger Gewißheit prophezeien, zur Richtschnur eines neuen, Staat und Gesellschaft durchdringenden Engagements der einzelnen wie der künftigen Mehrheiten werden.
Der Autor ist Chefredakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“. Der Beitrag ist ein Auszug eines Referates vor dem Europäischen Forum Alpbach 1985.
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