7030407-1989_28_08.jpg
Digital In Arbeit

Zeitgeist-Spuren

Werbung
Werbung
Werbung

Geisterfahrer

So viele Wörterbücher stehen in meiner Bibliothek, xmd in keinem einzigen steht der GeisterfahrerX Der (fehlende) Geisterfahrer führt mir drastisch vor Axigen, daß mein gesamter Wörterbuchpark emeue-rxmgsbedürftig ist. Axif meinen Regalen drängen sich alte Modelle, ja ausgesprochene Oldtimer (Erstausgaben). Manch altes Wörterbuch aber verstehtdie moderne Weltnicht mehr. Wortlos xmd sprachlos stehen viele Wörterbücher dem Zeitgeist gegenüber. Keines kaim sich xmd mir das Phänomen der Geisterfah-

rer erklären. Dabei wimmelt es in den Zeitungen von Geisterf ahrem.

Gleich öfter fuhr in der letzten Woche ein solcher Nonkonf ormist auf der falschen Spur von Velden nach Klagenfurt, lese ich. Trunkenheit, Irrtum xmd Ubermut sind die Gründe dafür, daß immer mehr Menschengegenden Strom schwimmen wollen. Manche Experten sind der Meinung, daß die Tollkühnen, die also bewußt xmd vorsätzhch gegen die Einbahn rasen, die Be-Irunkenen xmd die Verwirrten längst überiiolt haben. Nicht wenige Geister- xmd Amokfahrer sind auch beides zugleich: Betrunken xmd übermütig. Jedenfalls muß man auf der Autobahn immer auch mit Gegenverkehr rechnen, vor allem nachts, denn gerade ein nicht mehr geringer Teil des sogenannten Diskothekenverkehrs spielt sich heute „contra“ xmd nicht mehr „cxim“ ab.

Mich überrascht dieses deviative, also „abwegige“ Verhalten der Ver^ kehrsteilnehmer im Gegensatz zu meinen stummen Wörterbüchern eigentlich rücht Warum soll sich die allgemeine Abneigxmg’gegen das „Angepaßte“ nicht auch auf der Straße äußern. Der moderne Mensch will alles „hinterfragen“, ihm bedeuten Konventionen nichts mehr. Er ist mündig xmd kritikfähig geworden. Und er ist in der Masse ja nxm wirkhch oft genxig in die Irre gegangen, hat sich verrannt. Nicht nur einmal war die Situation wegen des Herdentriebs verfahren. (Vom Zug der Lemminge hört man oft reden.)

Und so werden die Geisterfahrer auch in der PoUtik, in der Wirtschaft, in der Kirche (Geisterp/ar-rer) xmd in allen Lebensbereidien immer mehr. Arm an Abenteuern ist das Leben, xmd darum muß der Mensch erfinderisch werden, xim das Grau aus seinem Alltag herauszu-zwingenxmd Farbe hineinzubekommen.

Deshalb setzt sich der Klagenfur-ter, bevor ihm langweilig werden könnte, in sein Auto xmd fährt abends grade eben noch einmalnach

Villach, etwa zu einer Faschingsveranstaltung in der sogenannten „Narrenhochburg“ auf der linken Fahrbahn hinauf xmd auf der Unken (von ihm axis gesehen) auch wieder herxmter, „dem Anlaß entsprechend“. Dann kaim er mit dem Bewußtsein ins Bett gehen, (sich) etwas geleistet zu haben!

Oder nehmen wir den Bereich der Kultvir. Werden nicht auch im Regietheater heute die Klassiker ab-sichtUch gegen den Strich gebürstet? Und so wie im ursprüngUch aristokratischen Burgtheater mit derbüigerlichenKulturproletarisch umgegangen wird, so ist auch in den Schulen heute eine neue Generation von Deutschlehrern am Werk, die es etwa mit der Rechtschreibxmg nicht mehr so genau nimmt xmd den Schülern eine Linkischheit auf dem Rechtschreibsektor nicht mehr krumm nimmt. Sie haben die Orthographie als einDisziplinierxings-instrximent der herrschenden bür^ gerlichen Klasse erkannt xmd deshalb angefangen, durch Verweigerung der „korrektiven“ Funktion des Lehrers gegenzusteuem. Nicht die Aufsätze der Schüler gehören verbessert, sondern das repressive System, sagen sie.

Und auch im zwischenmenschlichen Verkehr xmd im Umgang der Geschlechter soU nxm das Geister^ fahren, mit dem „Sexkoffer“ im Kofferraxim, zur Methode gemacht werden. Auch auf diesem Gebiet sollen Einbahnen umgedreht xmd die alte Verkehrsordnung aufgehoben werden. NatürUch wird es noch lange konservative Prüde geben, die immernoch sturheil geradeaus xmd rechts fahren wollen. Manchempaßt die ganze Richtxing nicht. Geisterfahrer gegen den Zeitgeist.

Urlaub

Jährlich läßt irgendein Redakteur einer Zeitung oder des Radios anfragen, welches Buch man diesmal in den Urlaub mitnehmen wolle xmd welches man im Falle eines Falles „auf die Insel“ mitnehmen würde. Meistens denke ich gar nicht lange nach, ich bleibe bei den Uebgewor-denen Angaben xmd der übUchen Angeberei xmd erfülle mit Homer, Vergil oder der Bibel die in mich gesetzten Erwartxmgen.

Diesmal ist mir aber auf die xm-originelle fVage eine besonders ori-

t gineile Antwort eingefallen: Das Deutsche Wörterbuch von Jacob xmd Wilhelm Grimml So würde aus je-demEiland eine Sprach-Insel, denn mit dem Grimmschen Wörterbuch xmd seinen 33 Bänden hätte ich zugleichdenreichsten Zitatenschatz xmd eiaen großen Teil der deutschen Dichtimg xmd Prosa bei mir, wenn auch axiszugsweise. Gerade der Artikel Urlaub in Band 24 böte Lesestoff für manchen Urlaubs- oder Ferientag, xim über die Bedeutungsverengung von der aUgemeinen „Erlaubnis“ zxim gewerkschaftU-chen Terminxis technicxis nachzudenken.

Ein Philologe, zu deutsch „Liebhaber des Wortes“, aber ist nicht xmbedingt auf die „Kursivität“ angewiesen, er kann gern auf Hand-lung xmd Spannxmg verzichten xmd sich an Exzerpten frexien. Er kann auch der Zusammenhanglosigkeit einenReiz abgewinnen. Er weiß, daß die Welt nicht so kontinent ist, wie es im Triviakoman aussieht.

Wie köstlich sind etwa auch die isolierten Sätze, die die sogenannten Sprachführer den Urlaubern in ItaUen, Spanien oder Griechenland anbieten, um sie für die Eventualitäten in Geschäften, auf Bahnhöfen oder in Hotels sprachlich zu wappnen. Wie einfühlsam tasten sich Gxüde xmd Cicerone an die Bedürfnisse des Leibes xmd der Seele des Fremden heran, xim sie dann doch immer wieder haarscharf oder gründlich zu verfehlen. Was der Mensch eigentlich xmd letztlich brauchte, bekommter ja doch nicht.

Jxitta Schütting hat in ihrem „Sprachführer“, in „Da lacht die Sonne, Ferienlektüre“, axu jener Merkwürdigkeit der Sprachbücher literarisches Kapital xmd Funken geschlagen, ein wenig nachgeholfen xmd ein Schulbeispiel von Schulliteratur geliefert: „Beim Friseur Beeilen Sie sich, Sie sollen meine Haare färben. Bitte einen Schnurrbart (Backenbart). Wozu rasieren Sie meinen Nacken aus?“ Und „Im Restaurant“ heißt es: „Ich esse keinen Fisch (Gemüse, nichts Süßes, keine Teigwaren etc.) Ichesse nichts Gekochtes (Gebratenes, Gebackenes). Ichbinnämlich magen- (leber^ gallen- nieren- darm-) leidend Kann mir die SpezialitätdesHaxiseskünst-hch verabreicht werden?“

Im Jahr 1990 aber werde ich Ludwig Harigs Geniestreich gegen die Erschaffung der Welt im Lehrbuch nennen: „Sprechstxmden für die deutsch-französische Verstand digung xmd die Mitglieder des Gemeinsamen Marirtes, ein Familienroman“.

Ladit gdoirzt AUS dcoi poctudicn IVoctep. buch „Romvilus und WSrther See*, da» dem-nödwt im Residenz-Verlag, Sal^nsg, erscheint

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung