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Zeitgeschichte

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„Martin Bormann: Der Mann, der Hitler beherrschte“ steht als Untertitel auf dem Buch „Der Sekretär“ von Jochen von Lang. Hitlers Sekretär als Herrscher über ihn - das ist natürlich eine jener kessen Überformulierungen, über die man hinwegsehen muß, wenn de* für Zeitgeschichte zuständige Redakteur des „Stern“ ein Buch schreibt. Wie von einem so gewiegten Rechercheur, der sich jahrelang mit Bormanns Schicksal beschäftigte, nicht anders zu erwarten, wird die Rolle Bormanns bei Hitler im Buch auf das realistische Maß zurückgeführt. Was übrigbleibt, bedeutet immer noch, daß Bormann vor allem in jener Phase vor Kriegsende, in der Hitlers körperlicher Verfall zeitweise in Aktionsunfähigkeit überging, größere Macht hatte als jeder andere neben Hitler außer Himmler. Doch konnte sich Hitler auf Bormann verlassen, er verfolgte außer der Mehrung seiner Macht keinerlei eigene Ziele, die sich nicht völhg mit denen Hitlers gedeckt hätten, und genau dies war wohl der Grund dafür, daß Hitler ihm solchen Einfluß einräumte. Daß Bormann dabei teils hinter Hitlers Rücken, teils ganz offen Rivalen abschoß, kann wohl nicht als „Herrschaft Bormanns über Hitler“ gedeutet werden - wenn er je wirklich gegen Hitlers Intentionen gehandelt haben sollte, dann allenfalls, als er Hitlers Leibphotographen Hoffmann aus der Umgebung des „Führers“ vertrieb. „Der Sekretär“ ist sicher eine zeitgeschichtliche Veröffentlichung von Bedeutung. Lang arbeitet mit Akribie die Stationen der „Ochsentour“ heraus, die den völlig unbedeutenden, aber von Ehrgeiz ■durchtränkten, brutalen und völlig skrupellosen Bormann emporführte, und recherchierte eingehend dessen zahllose Revierkämpfe mit den anderen „Paladinen“ Hitlers, der es sehr gern sah, wenn die Unterchefs seines Gangsterimperiums einander in Rivalenkämpfen pattsetzten. Möglicherweise handelte Bormann auch durchaus in Hitlers Sinn, als er diesen gegen Kriegsende immer mehr abschirmte. Deutlich wird die infernalische Mechanik sichtbar, die in einem hierarchischen System ohne ethische Grundlage diejenigen begünstigt, die am konsequentesten und skrupellosesten nach der „reinen Macht“ streben und dabei geradezu gesetzmäßig über jene triumphieren, die „etwas mehr“ (und das heißt vom Standpunkt der Machtstrategie: Weniger) wollen. Stalin ist ein anderes Beispiel dafür. Daneben erscheint die Beweisführung, daß Bormann tatsächlich tot ist, zwar überzeugend, aber eigentlich sekundär - positiv jedenfalls, daß damit den Legenden über Bormann in Südamerika die Basis entzogen wurde. Jochen von Lang hat mit seinen Recherchen erheblich zur Auffindung des Bormann-Schädels in Berlin beigetragen. (Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1977,512 Seiten, 32 Seiten Bildteil, öS 277,-)

Verglichen mit der Zahl der Toten von Stalingrad sind die 75.000 Opfer der letzten deutschen Offensive des Zweiten Weltkrieges unbedeutend, angesichts der rund 60 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges (Juden, Zigeuner und umgekommene russische Zivilisten eingeschlossen) ein Nichts, andererseits ist die Zahl der Menschen, die in diesem letzten, einzig von einem Befehl Hitlers veranlaßten Aufbäumen der deutschen Wehrmacht ihr Leben verloren, unwesentlich geringer als die Einwohnerzahl einer Stadt wie Klagenfurt. Die Geschichte dieser Offensiver, die am 16. Dezember 1944 begann und nach deutschen Anfangserfolgen innerhalb weniger Wochen zusammenbrach, beschreibt John To 1 and in seinem Buch „Ardennenschlacht“, das nun als Taschenbuch vorhegt. Toland, Verfasser einer neuen, stark beachteten Hitler-Biographie, schildert die Ardennen-Offensive, die unter dem Decknamen „Christrose“ vorbereitet wurde, exakt und detailreich, dabei locker, etwas romanhaft. Ein paar Ubersetzungsfehler stören. Das die Ruhr auf zwei Seiten zweimal als „Rur“ vorkommt, kann ein Druckfehler sein, daß der Ubersetzer aber einen Amerikaner

„Wo zum Teufel ist denn mein Exekutiv?“ rufen läßt, ist unverständlich. Zumindest ein Lektor hätte doch erraten müssen, daß vom Chef des armen Kerls die Rede war. (Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1977, 396 Seiten, öS 45,-)

Als billiger, unveränderter Neudruck der Ausgabe von 1964 erschien „Der Untergang Dresdens“ von David Irving. Das Buch bleibt der niemals übertroffene, minutiöse, erschütternde Bericht von einem klassischen Kriegsverbrechen, das durch nichts zu rechtfertigen ist, weil es nichts mehr zur schnelleren Herbeiführung des Kriegsendes beitragen konnte und weil dies bereits erkennbar war, als der Angriff durchgeführt wurde. Seit dem ersten Erscheinen des Werkes konnte die zeitgeschichtliche Forschung kaum mehr neues zum Thema beitragen, abgesehen von DDR-Veröffentlichungen über die Zahl der Opfer. (C. Bertelsmann, München 1977, 320 Seiten, 16 Seiten Abbildungen auf Kunstdruckpapier, öS 152,50)

Die Lücken im zeitgeschichtlichen Wissen werden kleiner - die For-schungs- und damit Publikationsthemen punktueller. In seinem Werk „Der plombierte Waggon - Lenins Weg aus dem Exil zur Macht“ konzentriert sich Michael Pearsonauf jenen lange Zeit geheimnisumwitterten Vorgang, den Churchill so umschrieb: „Man hat Lenin wie einen Pestbazillus in einem plombierten Waggon von der Schweiz nach Rußland befördert.“ Die Grundzüge des Geschehens sind bekannt: Nach der Februarrebolution tun die Westmächte alles, um zu verhindern, daß der Revolutionär Lenin aus seinem Zürcher Exil nach Rußland gelingt, denn er ist entschlossen, den Krieg mit Deutschland zu beenden. Aus eben diesem Grunde bietet die deutsche Regierung Lenin und seinem Gefolge den Transport durch Deutschland an. Lenin akzeptiert, obwohl er die Gefahr erkennt, durch die Annahme deutscher Unterstützung diskreditiert zu werden. Pearson recherchierte mit Akribie die Ereignisse, die es Lenin ermöglichten, in der Oktoberrevolution die Macht an sich zu reißen. Detaü am Rande: Der Waggon der russischen Revolutionäre, dessen Plomben durch die Literatur geistern, war in Wirklich unplombiert, nicht einmal alle Türen waren verschlossen. (Universitas Verlag, Berlin 1977, 260 Seiten, 8 Seiten Abbildungen auf Kunstdruckpapier, öS 262,-)

Albert Speer hat seine Konflikte mit Hitler im Nürnberger Prozeß und später in seinen Büchern ausführlich geschildert. Einen Konflikt zwischen Speer und Hitler, auf den Speer mit gutem Grund nie wieder zu sprechen kam, schildert - neben vielem anderen in-diesem Werk zutage geförderten Material - Dörte Winkler in ihrem Buch „Frauenarbeit im .Dritten Reich'“. Es war der ehrgeizige und technokratisch-effizient denkende Speer, der versuchte, die totale Heranziehung der deutschen Frauen für die Arbeit in der Kriegsindustrie durchzusetzen. Und es war Hitler, der solche Vorschläge scharf zurückwies und dies damit begründete, „daß die deutschen, ,hochbeinigen, schmalen'' Frauen nicht zu vergleichen seien mit den .kurzstampfeten, primitiven' und gesunden Russinnen.“ Die Autorin tritt der Behauptung Dahrendorfs entgegen, „der Nationalsozialismus habe eine erhöhte vertikale soziale Mobilität und vergrößerte Aufstiegschancen hervorgebracht“, zumindest soweit es die Frauen betrifft. In England arbeiten die Frauen wesentlich härter als in Deutschland, in den USA zeitweise bis zu sieben Tage pro Woche, in Texas sogar 70 Stunden pro Woche. Interessantes Detail: In den alliierten Ländern wie in Deutschland, am schnellsten aber in den USA, wurden die Frauen wieder aus dem Arbeitsleben ausgeschieden, als der Krieg zu Ende war. Auch jene Frauen, die erwerbstätig bleiben wollten ... (Hoffmann und Campe, „Historische Perspektiven“ Band 9, Hamburg 1977, öS 277,20)

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