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Digital In Arbeit

Zellenhirsch

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Als ich das Wort Zellenhirsch zum erstenmal höre, kann ich mir nichts darunter vorstellen. Ich getraue mich nicht, nach dem Sinn zu fragen, denn ich bin der Ansicht, ein Zellenhirsch ist etwas Unwirkliches, ein Phanta-siegebilde. Doch bald danach erfahre ich zufällig, daß der Zellenhirsch etwas Reales ist. Mit Zellenhirsch bezeichnet man eine Haftart, bei der man auf Wunsch völlig allein und ohne jeglichen Kontakt mit irgendwelchen Menschen seine Strafe abbüßt. Als Belohnung für die freiwillige Askese wird jeder Hafttag halbiert; wer also zu zwanzig Jahren Kerker verurteilt ist, braucht durch die Zellenhirsch-Methode nur zehn Jahre abzusitzen.

Jede Haft ist qualvoll, weil sie nur ein Trugbild des Lebens darstellt, weil man überhaupt aufhört zu leben. Ich bin überzeugt, dieser Zellenhirsch ist geradezu für mich geeignet, ein paar Jahre Wüste sozusagen,ein Wüsten tier, aber abseits von glutheißen Stränden und unendlichem Sternenhimmel. Die Unendlichkeit wird sich indes vielleicht auf andere Weise auftun, irgend etwas wird sich auftun, ein Wunder, eine Oase. Zellenhirsch, das bedeutet, daß die Zeit ungestüm dahingaloppiert. Und daß man danach plötzlich in die wirkliche Welt eingetaucht wird, in der Menschen schweben und Vögel schweben. Ein Schwebezustand, während hier alles so schwergewichtig ist, während hier alles angekettet ist oder festgefroren ist. Hier Ist die Umgebung vereist und die Gegangenen sind Eis-blöcke und nichts anderes. Und ich: inmitten dieses Eiszeit-Reiches ein Zellenhirsch, ein Sechzahnender, und neben mir Vierzehnender und Zehn-ender und Achtender, stets kapitale Wesen, wie man ja auch in der Kriminologie zu Recht von Kapitalverbrechen spricht. Oder vielleicht steht so ein kapitaler Zellenhirsch zwischen den kalkweißen Wänden und hat etwas von der zerbrechlichen Anmut des ersten Schöpfungstages. Am Beginn der Schöpfung gab es nur kristallklare Morgen, die Menschen waren nicht böse, alles war rein und quellfrisch und unberührt. Die gefährlichen, blutgierigen Spießer befinden sich außerhalb der Zellenwände. Ein ZeUenihirschen-Wald ohne Bäume. Eine Zelle wie die Arche Nctah, eine Zelle, die das ganze Universum enthält. Ich glaube, es ist unmöglich, daß in so einem Zellenhirschen nur Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung wähnen. Ich glaube, es muß in so einem Zellentier einmal ein Augenblick kommen, da eine große Erleuchtung eintritt Ich denke, so ein mit Erleuchtung erfüllter Zellenhirsch sprengt alle Mauern und Stacheldrähte. Und JETZT?

In der Mittagspause stelle ich die Maschine ab und verlasse mit einer Einkaufstasche, in welcher ich einige leere Bierflaschen habe, die Werkstätte. Ich gehe heute nicht in die Werksküche, sondern kaufe mir unten im Delikatessengeschäft eine kleine Mahlzeit. Der Portier beachtet mich nicht, auch die Passanten kümmern sich nicht um mich Warum sollten sie sich um mich kümmern, ich bin mit einem schwarzen Ar-beitsmantel bekleidet und sehe wie ein Verkäufer einer Eisenhandlung aius. Ich biege in eine schmale Seitengasse ein, wo sich mehrere unbedeutende Gasthäuser und Lebensmittelläden befinden. Um die Ecke ist eine Sparkasse, wo ich ein paar Erlagscheine aufgebe, monatliche Zahlungen, die andere Leute durch ein automatisches Konto besorgen lassen Ich will kein Konto, weil ich keines brauche.

Als ich in die Werkstätte zurückkehre, ist noch Pause. Andere Arbeiter sitzen herum und verzehren ihre Semmeln, ihre aufgeschnittene Wurst und ihr Bier. Bier ist am Arbeitsplatz verboten, doch niemand hält sich an diese Vorschrift Ich gehe zum Fenster und öffne es, eine Weile schweifen meine Blicke hinaus auf die Häuser und auf den Park.

Ein alter Mann sitzt auf einer Bank und schaut den Kindern beim Fußballspiel zu. Hinter einer hohen Mauer quietscht die Straßenbahn. Im Rasen, der mehr einer Steppe gleicht, liegt eine Cola-Flasche. Eine Jugoslawin — oder 'ist es eine Türkin? — schiebt einen Kinderwagen, in dem sich ein schwarzgelocktes Kind schaukelt. Ich würge an meinem Brot und meiner gummiartigen Wurst, die zur Hälfte in einer aufgeschlitzten Plastikfolie steckt. Der Himmel ist sauber und blankgeputzt wie meine Maschine. Nur das riesige Dach der gegenüberliegenden Fabrik ist immer schmutzig und grau.

Einmal ist ein Storch dort gesessen und alle Arbeiter sind zum Fenster geeilt und haben neugierig den Storch angestiert Der Storch verursachte ein Aufsehen, denn niemals hat es etwas Ähnliches gegeben, ich denke, es gibt hier bei uns Arbeiter, die haben nur dieses eine aufregende Aufsehen beobachten können, eine winzige wundersame Erscheinung, während der Alltag weiterging, einfach weiterging. Die Zeit verrinnt ohne Abwechslung, in den Zeitungen gibt es zwar Sensationen, und auch im Fernsehen wird viel Unglaubliches gezeigt, es sind aber immer Dinge, die vorüberziehen, ziemlich rasch und unbemerkt vorüberziehen.

In der Kantine oder im Lift der Fabrik pressen sich die Leute manchmal ganz dicht an mich, ich sehe dann in ihre faltigen, abgenützten Gesichter, sehe auf ihre ölbescbmier-ten Hände, oder ich rufe im Maschinenlärm den Leuten etwas zu, lache die blonde Hilfsarbeiterin an, grüße freundlich den Ingenieur, der immer einen dunklen Anzug und eine Krawatte trägt; die Leute erfüllen mit ungeheurem Tempo ihre Norm, ja, es ist alles ungeheuerlich, ich denke, es hat früher andere Uhren gegeben, jetzt gibt es ganz neue Uhren, die Digitaluhren, die mit höchster Präzision laufen und nie stehenbleiben. Nie.

Ich finde das alles unheimlich und ungeheuerlich. Ich komme da nicht zurecht Ich stehe gequält zwischen Stahlmonstren und Maschinen, ein ehemaliger Zellenhirsch, die Schneidemaschine läuft automatisch; ich gebe zu, bei einiger Aufmerksamkeit kann man die kompliziertesten technischen Vorgänge lernen. Man kann lernen und vorwärtskommen und viel erreichen. Selbst ein ehemaliger Zellenhirsch kann vorwärtskommen. Aber wie soll er vorwärtskommen, wenn er andere Markierungen gewöhnt ist? Neben mir steht Andreas, sein Oberkörper ist nackt, ein Muskelpaket, in der Freizeit geht er Handballspielen, jetzt rinnt über Schultern und Rücken Schweiß, als käme er aus der Sauna. Sein Verein ist einmal Staatsmeister geworden. Er hat mir ein Photo aus irgendeinem Sportblatt gezeigt. Aber nichts läßt sich festhalten, auch wenn man es noch so stark wül. Die Zeit schmilzt alles hinweg, selbst ein Zellenhirsch wird dann zum Phantom.

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