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Zeugen des Alltags

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Die Geschichte ist ein Gemälde von Verbrechen und Drangsalen. Die Menge unschuldiger und friedlicher Menschen tritt auf diesem ungeheuren Schauplatz fast immer in den Hintergrund.“ Der Philosoph Voltaire erkannte schon im 18. Jahrhundert die Notwendigkeit einer Geschichtsschreibung „von unten“. Auch die Volkskunde, die um diese Zeit entstand, wollte sich der großen arbeitenden Mehrheit zuwenden, die damals auf dem Lande lebte.

Dabei verschwimmen die Fachgrenzen zur Wirtschafts- und So-

zialgeschichte, die zunehmend das Zählen statistischer Daten durch das Erzählen ergänzt. Die Methode zum Aufspüren der oft verdrängten Wurzeln, neuerdings Oral History genannt, stützt sich auf persönliche Berichte. Vorwiegend ältere Menschen schildern, was ihnen im Leben früher wesentlich war, wie sie gearbeitet, gewohnt, gegessen, wie sie die Ereignisse der „großen“ Geschichte am eigenen Leib erlebt haben. Die Form reicht vom offenen Interview — Thema ist, was der Erzähler zum Thema macht — bis zu stärker strukturierten Fragenkatalogen. Fragebögen sind verpönt, die menschliche Ebene ist entscheidend.

Anders als in Deutschland und Schweden, wo die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit von den Betroffenen ausging, kommt in Österreich die „Geschichte von unten“ von „oben“: von den Universitätsin-

stituten. Als der Volkskundler Helmut Paul Fielhauer in den sechziger Jahren mit dem Magnetophon aufs Land ging, um unter Gutshofarbeitern Feldforschung zu machen, war das noch eine Sensation: Nicht die Feldforschung an sich — auch die Brüder Grimm gingen zum „Volk“, um seine Lieder, Märchen und Bräuche zu erfragen -, sondern der Zugang und das Forschungsinteresse: Weg vom fiktiven Bauerntum in die „Hinterhöfe der Nation“.

Auch der Historiker Michael Mitterauer beschäftigte sich mit den ländlichen Unterschichten. Er ließ sich von den alten Leuten erzählen und motivierte sie, ihre Geschichte(n) aufzuschreiben. Manches davon fand durch Rundfunksendungen Verbreitung. Heute umfaßt das Archiv an Mitterauers Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte Hunderte von Autobiographien. Etliche wurden in der Reihe „Damit es nicht verlorengeht“ im Böhlau-Verlag publiziert. Die erste Autorin, Maria Gremel, die vor kurzem ihren 85. Geburtstag feierte, schrieb auf ihre alten Tage mit ihrem Buch „Mit neun Jahren im Dienst“ einen Bestseller.

Der breiten Leserschaft gefallen diese Bücher. „Die These, das Volk sei schriftlos und damit ge-schichtslos, stimmt einfach nicht.

Es ist auch nicht wahr, daß einfache Bevölkerungsschichten nicht lesen“, sagte Franz Richard Reiter in einer Sendung des Medienver-bundprogramms „Jeder macht Geschichte“. Reiters Sendungen, die zwischen November 1985 und Dezember 1986 im .JAadiokolleg“ in Ol ausgestrahlt wurden, und die Buchreihe haben binnen kürzester Zeit das Bewußtsein breiter Kreise an der Alltagsgeschichte geweckt. Starke Impulse gehen auch von den Schulen aus. Schüler erforschen ihre Famüienge-schichte und finden dadurch Zu*-gang zu den historischen Ereignissen.

„Nähe“ und „Betroffenheit“ sind Schlüsselworte der kommunikativen, demokratischen, die bisherige Historie ergänzenden Geschichtsschreibung. Akademisch gebildete Interviewer und aktivierte Laien sind gleichberechtigte Gesprächspartner. Uberall entstehen Gruppen, in denen junge und alte Leute einander ihre Lebens-Geschichte erzählen. Die Themen orientieren sich an der Lebenslinie, von der Geburt und Namenswahl, Schule, Eltern-Kind-Beziehung, Berufsentscheidung, Lehrzeit bis zur eigenen Familie.

Das geht freilich weit über die rein historische Fragestellung hinaus. Da werden auch weltan-

schaulich-religiöse Hintergründe bedeutsam. Was glauben die Leute und warum? Wirkt sich der Glaube auf ihr Leben aus? In welchen entscheidenden Situationen hilft Religiosität? Diesen Zusammenhängen widmet sich Mitterauer derzeit in einem interdisziplinären Seminar mit Paul Michael Zulehner (Institut für Pastoraltheologie). Das Interesse am Thema „Religion in Lebensgeschichte“ von Studenten beider Fakultäten war überraschend groß.

Im Zusammenhang mit dieser Forschung entstand der „ja-Club“ in der Pfarre Lichtental (jeden Dienstag von 17 bis 18.30 Uhr, Wien 9, Marktgasse 40). „ja“ steht für jung und alt, doch ist der Gesprächskreis für alle offen, für die Religion in Lebensgeschichte ein Thema ist. Einige der „Jungen“ sind Student(inn)en der Theologie und Geschichte, die Gäste kommen aus der Pfarre und ihrer Umgebung. Sie bleiben nicht lange bei den vorgeschlagenen eher neutralen Themen (wie zum Beispiel „Advent“). Es entwickelt sich rasch jene offene Atmosphäre, in der sehr persönliche Erfahrungen in einer Gruppe ausgesprochen werden können. Vielleicht wäre das auch ein Modell für eine komplementäre kirchliche Seniorenarbeit. '

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