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Zeugnis auf Umwegen

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Der ungarische Romancier und Essayist Miklös Meszöly, Jahrgang 1921, wird im ungarischen Literaturlexikon als ein „unruhiger, ringender, einsamer Schriftsteller“ bezeichnet, dessen Werke eine „seltsame, abstrakte Anschauungswelt“ widerspiegeln. Das Wochenblatt ungarischer Jugendlicher in Jugoslawien, das in Novi Sad (Ujvidėk, Neusatz) erscheinende „kepes ifjüsäg“, stellt dazu korrigierend fest: „In der heutigen Zeit ist jeder anständige Denker unruhig, ringend und einsam, da die quälend-langsame allgemeine Entwicklung, ja sogar Rückentwicklung der menschlichen Gesellschaft zum Optimismus nicht viel Grund gibt.“

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Der ungarische Romancier und Essayist Miklös Meszöly, Jahrgang 1921, wird im ungarischen Literaturlexikon als ein „unruhiger, ringender, einsamer Schriftsteller“ bezeichnet, dessen Werke eine „seltsame, abstrakte Anschauungswelt“ widerspiegeln. Das Wochenblatt ungarischer Jugendlicher in Jugoslawien, das in Novi Sad (Ujvidėk, Neusatz) erscheinende „kepes ifjüsäg“, stellt dazu korrigierend fest: „In der heutigen Zeit ist jeder anständige Denker unruhig, ringend und einsam, da die quälend-langsame allgemeine Entwicklung, ja sogar Rückentwicklung der menschlichen Gesellschaft zum Optimismus nicht viel Grund gibt.“

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Mėszoly lebt in Budapest, in selbstgewählter schöpferischer Einsamkeit nicht viel anders als Schriftsteller in Wien, Köln oder in Paris leben; in ständigem Umgang mit Büchern aus aller Welt, im Kontakt mit Schriftstellerfreunden, aber auch mit den wichtigsten Phänomenen der Zeit, die er unter anderem auf Grund von gelegentlichen Reisen in Europa aus eigener Anschauung kennt.

Wenn Meszöly seine Position in der europäischen Literatur abstek- ken will, fallen bald die Namen Camus und Beckett. Meszöly ist ein universell gebildeter und dabei, wie die genannten, ein engagierter Schriftsteller, dessen Platz in der heutigen ungarischen Literatur jedoch keineswegs mit den Maßstäben der aktuellen Politik oder gar mit einem Parteibuch zu messen ist. Er ist nicht nur seit jeher parteilos, sondern ist nicht einmal Mitglied des offiziellen Schriftstellerverbandes und muß sich daher in einer Umwelt, die den Schriftsteller als privilegierte Person gerne betreut, ąbęr auch bevormundet, allein durchschlagen. Er selbst weicht direkten* Fragen, die sein Verhältnis zum „Sozialismus“ prüfen wollen, gerne aus und beruft sich nur allgemein auf eine große Tradition der ungarischen Literatur: auf den „Anspruch des schöpferischen Risikos“. Er fügt allerdings hinzu: „Ich lebe hier, ich arbeite hier. Meine Bücher erscheinen. Leidenschaftlich interessiert mich das, was hier geschieht. Am Intimsten steht mir hier die Menschheit zur Verfügung…“

Mit dieser etwas „abstrakten und gleichnishaften Form“ der Antwort war der Reporter der Budapester Literaturzeitung „Eiet ės irodalom“ zwar nicht ganz zufrieden, respektierte aber diesen „Stil des Schriftstellers“. Für Meszöly ist aber die Parabel keine Formfrage und auch kein Ausweichen vor der Zensur,

sondern der gültige Ausdruck der immer mehrdeutigen Wirklichkeit. Er spricht von amerikanischen Romanautoren der moderenen realistischen Richtung, die es nach seiner Ansicht besser als die Europäer verstehen, aus den Tatsachen und Vorkommnissen eine „Mythologie“ herauszudestillieren. Zu einer „neuen europäischen Mythologie“ wäre jedoch nach Ansicht Meszölys notwendig, daß sich gerade die Schriftsteller in Mitteleuropa vorher „an den Rand des Abgrundes vorwagen“: nicht nur in den Formfragen, sondern vor allem in der Konsequenz des Zu-Ende-Denkens und der unabhängigen Aufrichtigkeit — wie Beckett…

Meszöly, der aus einer bekannten Familie des alten ungarischen Mittelstandes aus der Provinz stammt und seine ersten literarischen Impulse in seiner Vaterstadt Szekszärd in Süd- westungam erhielt, vergleicht in einem Gespräch mit dem Besucher aus Wien die natürliche Attitüde des Schriftstellers mit einem „Hindernisrennen“: Der Schriftsteller muß,

‘weim er’näch Themen sucht, Ständig mit Tabus rechnen. „Dies war aber in der Geschichte immer schon so.“ Es ist die Umwelt, die für Tabus sorgt und den Schriftsteller zu besonderen Anstrengungen oder auf Umwege zwingt. Auch im Westen sagt Meszöly, gibt es Tabus, die von der Mode, vom Gesetz der Aktualität diktiert sind. Der westliche Autor, wenn er auf den Publikumserfolg nicht verzichten will, muß diesen Suggestionen und Zwängen nachgeben. Für die Schriftsteller in Ost und West ist jedoch, meint Meszöly, ein Mindestmaß an Freiheit unentbehrlich: Der Schriftsteller muß ratlos sein dürfen und in der Sturzflut der möglichen Alternativen den Weg, seinen Weg suchen. Die Herausforderung für den Schriftsteller besteht, nach Meszöly, darin,

daß es nicht gleichgültig ist, in welchem Milieu er einsam und er selbst bleiben will. Eine gewisse „Übertragung“ ist bei einem literarischen Werk immer notwendig, aber es ist unnatürlich, wenn die Transposition der „innersten Wahrhaftigkeit“ von äußeren Umständen und nicht allein von der Spontaneität des Schriftstellers abhängt.

Zu den Tabus, die den osteuropäischen Schriftsteller zu gewissen Umwegen zwingen, gehörte, laut Meszöly, lange Zeit der zweite Weltkrieg mit allen seinen Voraussetzungen und Begleiterscheinungen. Dieser vielschichtige, überwiegend tragische „nationale Erlebnisstoff“ wie auch noch zahlreiche andere Phasen der jüngeren Geschichte wurden nach der Meinung Meszölys von den Schriftstellern nicht ganz ausgeschöpft; über die „innerste Katharsis der Seelen“ wurde, mit welchen Stilmitteln auch immer, nicht ausreichend berichtet.

Hierzu kommt aber, meint Meszöly, noch eine weitere Schwierigkeit. Die kleinen nationalen Literaturen Mitteleuropas verfügen nicht über das universelle „Code-System“ der großen klassischen Literaturen des angelsächsischen, des französischen oder des russischen Sprachgebiet. Sie sind also in der Wahl- ihrer Themen noch weiter eingeengt. Denn die gesellschaftlichen Probleme in diesen kleineren Ländern haben nicht jene Allgemeingültigkeit wie die Probleme, die in den berühmten englischen, französischen oder russischen Romanen behandelt werden. Das „Code-System“ der kleinen Literaturen ist also für Außenstehende nicht so evident und verständlich wie das der großen und hat auch nicht die gesellschaftsbildende und die Geschichte formende Rolle wie das „Code-System“ der großen Literaturen. Meszöly glaubt also nicht, daß der klassische Gesellschaftsroman, in welcher modernisierten Form auch immer, für die kleineren Literaturen die richtige Möglichkeit wäre, sich in der Welt verständlich zu machen. Solche Unternehmungen haben nach seiner Meinung immer einen etwas provinz- lerischen Beigeschmack.

Die kleinen Literaturen sind, nach Ansicht Meszölys, gerade deshalb zu formalen Experimenten berufen. Auf diese Weise könnten sie neue Dimensionen und eine gewisse Universalität erreichen. Gerade die leineren Literaturen dürfen sich nämlich den Luxus einer Geschlos senheit nicht erlauben, sondern müssen, die Pose von nationalen Provinz-Propheten überwinden, nach allen Richtungen offen sein. Mėszoly sieht darin noch ungenützte Möglichkeiten und glaubt fest daran, daß die ungarische Literatur von einem neuen Aufschwung steht, wenn sie diese ihre besondere Aufgabe erkennt.

Für einen solchen Versuch bietet der jüngste Roman von Miklös Meszöly „Saul“, ein typisches Beispiel. Der Autor versucht hier, sich von der eigenen historischen und gesellschaftlichen Situation ausgehend zu dem „allgemein menschlichen“ Stoff der biblischen Geschichte zu nahem und zwar so, daß der Leser merken muß, das Buch wurde nicht in irgendeiner Gegend der Welt, sondern in Ungarn geschrieben. Der Versuch Meszölys galt also hier der Synthese der biblischen Welt des Saul mit der besonderen Situation und Problematik, die den Autor in Ungarn umgibt oder umgab. Meszöly glaubt, daß das der richtige Weg zu einer „neuartigen Universalität“ ist.

In seinem ersten Roman, dem „Tod des Athleten", strebte Meszöly an Hand eines modernen Stoffes die gleiche Synthese an. Während im „Saul“ der Mensch inmitten einer Welt der Intoleranz und der dadurch allgegenwärtigen äußeren und inneren Spannung durch viele Fährnisse seinen Weg nach Damaskus suchen muß, ihn aber letztlich findet, besteht das Problem für den Athleten Meszölys darin, daß der junge Sportler auf der Suche nach sich selbst zwischen Kindsein und Erwachsenwerden ständig unterwegs ist und nur in der sportlichen Leistung das erstrebte „Absolute“ sucht, es aber dort nicht findet.

Meszölys Romane sind also gewisse aktuelle Bezüge nicht abzusprechen. Dieser Autor, dessen Bücher in den letzten Jahren nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in Frankreich und noch in weiteren westlichen Ländern erschienen sind, ist damit ein Gradmesser für jeae gelockerte Atmosphäre, die das Kädär-Regime in Ungarn für die „schöpferisch Tätigen“ geschaffen hat, damiit sie, nach den Worten des für die Kulturpolitik zuständigen ZK-Sekretärs der ungarischen KP, György Aczėl „ihr Talent frei, zum Wohle des Volkes und der Menschheit entfalten können“. Etwas einschränkend fügte Kädär-Freund Aczėl in seiner Parteitagrede im Vorjahr diesem Satz ein Zitat aus dem Bericht des Zentralkomitees hinzu: „Die Entwicklung ist naturgemäß mit der Suche nach neuen Wegen verbunden und geht häufig unter Wiedersprüchen und Diskussionen vor sich.“ Aber: „An unseren kulturpolitischen Prinzipien darf auch nicht ein Jota geändert werden."

Von Miklös Meszöly sind bisher in deutscher Sprache erschienen: „Der Tod des Athleten“, Roman, aus dem Ungarischen von György Sebestyėn, 1966; „Saul“, Roman, aus dem Ungarischen von Barbara Frischmuth, 1970; beide Carl-Han- ser-Verlag, München.

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