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Ziehharmonika-Politik

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Schrittweise läßt man die Katze aus dem Sack: Es wird doch erhebliche Leistungskürzungen in der Sozialversicherung geben. Neben Systemkorrekturen — über die man durchaus diskutieren kann und soll — will man einfach den Rotstift ansetzen und Ansprüche verringern.

Am meisten sollen dabei Abstriche von Mehrfachpensionen und eine „Dämpfung“ der jährlichen dynamischen Anpassung aller Pensionen (als Folge der Arbeitslosigkeit) ins Gewicht fallen.

Den langjährigen Praktiker der Sozialpolitik regen diese Vorhaben zu wehmütig-kritischen Betrachtungen an. Sie reichen in die Zeit der Großen Koalition und der ÖVP-Alleinregierung zurück, wo beide Themen schon Gegenstand der Debatte waren — allerdings mit umgekehrten Vorzeichen.

Kürzungsbestimmungen für das Zusammentreffen von mehreren Pensionen gab es schon früher. Und sie waren auch noch im Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz verankert, welches 1956 in Kraft trat. Sie wurden dann im Zuge der schrittweisen Leistungsverbesserungen beseitigt.

Als der Ruf nach Erhöhung der Witwenpension auf sechzig Prozent erschallte, versuchte die seinerzeitige Sozialministerin Grete Rehor einen an sich sehr vernünftigen Weg: Für Frauen, die nur von der Witwenpension leben mußten, wurde ein zehnprozentiger Zuschlag eingeführt, um den höheren Fixkosten des Einperso- nen-Haushalts gerecht zu werden.

Der folgende Minister der sozialistischen Alleinregierung gab die sechzigprozentige Witwenpension unbedingt.

Auch die Formel für die Pensionsdynamik war jahrelang umstritten. Sie war von Haus aus etwas „gebremst“, brachte aber noch immer höhere Prozentsätze als die Inflation — also echte, reale Einkommensgewinne für die alte Generation.

Auch hier feierte die Regierung Kreisky den sozialpolitischen Durchbruch und verwirklichte die sogenannte „volle“ Anpassung. Trotzdem mußten die Pensionisten in den letzten Jahren reale Einkommenseinbußen hinnehmen; am 1. Jänner des kommenden Jahres wird man vier Prozent geben, aber für 1984 rechnet man mit 5,5 Prozent Inflation.

Dessen ungeachtet will man die Berechnungsmethode der jährlichen dynamischen Anpassung nach unten korrigieren.

Alles in allem ergibt sich eine groteske Situation. Vor noch gar nicht langer Zeit überschlug man sich geradezu in der Anklage, wie engherzig und unsozial die wären, welche sich gegenüber sozialen Ansprüchen zögernd zeigten. Dann setzte man mit der absoluten Mehrheit die propagandistisch weidlich ausgeschlachteten Forderungen durch — und nun gibt man die Parole aus: „Vorwärts, Genossen, wir marschieren zurück!“

Dies darf kein Anlaß sein, womöglich hämisch zu bemerken, wie recht die hatten, die einen maßvollen sozialen Fortschritt auf solider Basis vertraten. Sie gingen ja dann doch — wenigstens aus Popularitätsgründen — sozusagen mit.

Auch soll nicht geleugnet werden, daß die soziale und wirtschaftliche Situation nicht voneinander getrennt werden können und daß die jahrelange Krise zum Sparen auch bei den Transferleistungen zwingt.

Wir werden jetzt allerdings vor eine sehr grundsätzliche Frage gestellt: Ob es nämlich gut ist, das Sozialsystem nach Art einer Ziehharmonika auseinander zu ziehen und dann wieder zusammenzudrücken, je nachdem, ob die Konjunktur gut oder schlecht ist.

Gab es doch sogar immer wieder Überlegungen, daß ein langfristig geplantes soziales Leistungsvolumen stabilisierend wirken und etwa in der Krise wohltätige Kaufkraft einbringen könnte. Die harte Realität zeigt freilich, daß dafür kein Geld vorhanden ist, weil man schon in der guten Zeit nicht nur die Kassen leerte, sondern viele finanzielle Verpflichtungen einging, die jetzt die öffentlichen Haushalte unerträglich belasten.

Ein Sozialsystem, bei dem der einzelne Bürger die Unsicherheitsfaktoren Konjunktur und Staatsfinanzen einkalkulieren muß, taugt nichts. Es stört das Vertrauensverhältnis zwischen dem einzelnen und dem Sozialstaat empfindlich. Immer mehr Menschen werfen immer häufiger die Frage auf, was sie überhaupt einmal bekommen können.

Es ist daher höchste Zeit zu einem sehr grundsätzlichen, dauerhaften und ernsten Umdenken: Wir sollten uns hinkünftig um ein Sozialsystem bemühen, das in guten Zeiten nicht Spielwiese demagogischer Begehrlichkeit ist und in schlechten Zeiten nicht Opfer des Diktats der leeren Kassen wird.

Der Autor ist Direktor der Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, Obmann des österreichischen Arbeiter- und Angestelltenbundes (ÖAAB) und Abgeordneter zum Nationalrat.

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