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Zigaretten für den Säugling
Der Turn- und Sportplatz für die heranreifende Jugend neben der großstädtischen Riesenkreuzung hat entschieden zukunftsweisende Dimensionen und Qualitäten. Wenn die Buben und Mädel mit angestrengtem Gesicht beim Wettlauf in tiefen Zügen die über den Gehsteig von der sechsbahnigen Autostraße hereinwehenden Dieselwolken einatmen, dann ist das ein vollendeter Ausdruck unseres Zeitalters. Man scheint gute Erfahrungen damit zu machen. Denn während der Niederschrift dieser Zeilen entsteht an einer Schnellstraße ein Sport- und Erholungszentrum, bei dem die zugehörigen Gebäude sich in raffinierter Architektonik atriumartig zur Straße hin öffnen, so den vom Westwind hereingetragenen Benzindünsten keine Ausweichmöglichkeit gebend. Ein Beispiel für vieles, besser gesagt, für alles.
Der Turn- und Sportplatz für die heranreifende Jugend neben der großstädtischen Riesenkreuzung hat entschieden zukunftsweisende Dimensionen und Qualitäten. Wenn die Buben und Mädel mit angestrengtem Gesicht beim Wettlauf in tiefen Zügen die über den Gehsteig von der sechsbahnigen Autostraße hereinwehenden Dieselwolken einatmen, dann ist das ein vollendeter Ausdruck unseres Zeitalters. Man scheint gute Erfahrungen damit zu machen. Denn während der Niederschrift dieser Zeilen entsteht an einer Schnellstraße ein Sport- und Erholungszentrum, bei dem die zugehörigen Gebäude sich in raffinierter Architektonik atriumartig zur Straße hin öffnen, so den vom Westwind hereingetragenen Benzindünsten keine Ausweichmöglichkeit gebend. Ein Beispiel für vieles, besser gesagt, für alles.
Unser Erziehungssystem für morgen ist nämlich in seinen Grundzügen vollkommen festgelegt, wenn wir unter Erziehung die Gesamtsumme aller Maßnahmen zur Heranbildung und Aufzucht der Jugend verstehen. Manches ist freilich erst angedeutet, anderes schon verwirklicht, aber was sich zwischen audiovisuellem Unterricht und Vitamin- ernährung, zwischen bodybuilding und Freizedtzerstörung an Möglichkeiten und Notwendigkeiten darbie- tet, ist durch Tempo und Technik, Wissenschaft und Wohlstand bestimmt. Ironie ist hier vollkommen fehl am Platz, Selbstbetrug ebenso. Wie man das in den letzten fünfzig Jahren auf das Zehnfache angewachsene Wissen der Menschheit statt in sechs in fünf Tagen — und bei der in Amerika bereits beginnenden Viertagewoche sogar in vier Tagen — in die jungen Gehirne einpflanzen wird, ist bis heute unbeantwortet geblieben, aber die Fünftage- Unterrichtswoche ist nun einmal da und dort schon eingetführt und sie wird sich verbreiten Die Sechstage-
Arbeitswoche kann man durch Maschinen auf fünf Tage verringern, aber kann man die Aufnahmefähigkeit des Gehirns auf fünf Tage zusammenpressen?
Vielleicht kann man es. Auch mit der Maschine. Im audiovisuellen Sprachlabor lernt der junge Mensch, isoliert durch schall- und sichtbehindernde Wände, unter dem Kommando der Maschine. Er hat keine Tuchfühlung mit dem Nachbarn, kein Fluidum zwischen Lehrer und Lernenden, kein Gemeinschaftsbild, er wird zur Kontaktarmut, zur Vereinzelung, zur Unsozialität erzogen. Er lernte so, wie der Hochhausbewohner in der Millionenstadt lebt: isoliert.
Eine andere Methode: der sogenannte vorschulische Unterricht ab dem vierten Lebensjahr. Man reift heute früher und schneller. Warum nicht schon mit vier das Einmaleins, wenn man schon mit einem halben Jahr das Baby kerzengerade in den Hängesitz im Fonds des Autos setzt und es dann stundenlang durch die Gegend rattert? Unausgebildete
Knochen, orthopädische Bedenken? Lächerlich. Ein Blick auf das Wochenendpublikum auf den Autostraßen lehrt, daß man sich hinsichtlich des Nachwuchses von altmodischen Vorurteilen völlig frei gemacht hat. Das Sichselbstüberlassen der Kinder, um Ruhe für den TV-Appa- rat zu haben, einerseits, und das Überlassen des Fernsehers den Kindern, um von ihnen nicht belästigt zu werden anderseits, sind Selbstverständlichkeiten: Technik, Maschine, Tempo bestimmen das „Milieu“ der haranwachsenden Generation. Sie kennt nichts anderes. Und sie wird dafür entschädigt mit reichlich Vitaminen und Zuckernahrung. Das Kind auf dem Bauernhof ißt nicht mehr die Äpfel vom eigenen Garten, sondern Bananen, in der Stadt fährt der Vater das Kind zur Schule, mit dem Wagen natürlich. Kinder, die zu Fuß kommen und denen nicht einmal die Mutter die Schultasche trägt, sind deklassiert. Moderne Arme. Das ist die neue Basis der Gesellschaft.
Das Ganze hat natürlich auch seine Nachteile. Fettsucht bei 20 Prozent der Jugendlichen — was nach Ansicht der Ärzte schlimmer als Krebs ist —, schwere Schäden im Knochengerüst bei einem Viertel der Pubertätsaltrigen infolge des Zusammenrüttelns durch das Auto und infolge mangelnder Bewegung, Konzentrationsschwäche durch Reizüberflutung. usw. Aber man baut Klassenzimmer mit Tieffenstem, damit der Blick während des Unterrichts sich ungehindert den Vorgängen auf der Straße widmen kann, und wenn die Pädagogen sich — wie zum Beispiel in Zürich — darüber beschweren, dann weisen die Architekten entrüstet auf die Notwendigkeit eines fesselnden Unterrichtsvortrages hin. Zum Tempo und den anderen Accessoires unserer Zeit gehört nämlich auch die Freiheit, jedes Prinzip sofort umzustoßen, sobald man es erkennt.
Es wäre jedoch unehrlich, zu übersehen, daß ein Grundsatz sehr wdhl und konsequent beachtet wird: die Selbstentscheidung der Jugend. Wiewohl die Psychologen behaupten, daß der Mensch erst relativ sehr spät im Leben geistig, seelisch und charakterlich reif wird, fügt man sich heute gern dem Wunsch dec Jugend, dem Zwang der Reifezeremonien entrinnen zu können. Warum sollte man die Jugend auch zu solchen atavistischen Verhaltensweisen zwingen? Im Kampf mit der Natur war es bei den „Wilden“ notwendig, Schmerzen zu ertragen und dieses Ertragen auch zu lernen. Heute ersetzt das die Chemie und die Tablette. Unser drudeknopfgesteuertes Zeitalter kann sich überhaupt soviel vom „Kampf ums Dasein“ ersparen, daß es auch auf die entsprechende Schulung verzichten kann. Man hält sogar die Erziehung zum Willensgebrauch für überflüssig und begeht bedenkenlos — und gedankenlos — die größte Grausamkeit des Jahrhunderts, indem man es der Jugend selbst überläßt, ihre Entscheidungen zu treffen. Die Jugend soll sich in der ihr noch fremden Welt selbst zurechtfinden, sie soll über das ihr Unbekannte urteilen, ohne zu wissen, wie man das macht, wie man damit fertig wird und was hinter diesen Entscheidungen steht. Man nennt das Mitbestimmung, senkt Großjährigkeit und Wahlialter, Beseitigung von Lern- und Prüfumgszwang usw. Das Ergebnis ist der „Entwicklungsfortschritt“, wie ihn Will Vesper in seinem „Entfesselten Säugling“ schildert: der Neugeborene hält gleich nach dem Erblicken des Lichts dieser Welt (und vor dem Benetzen der Windeln) eine richtungsweisende Ansprache an seine Umgebung. Im Zeitalter der Atombombe eine nicht ganz ungefährliche Praxis.
Die Planskizze unseres Zeitalters ist jedenfalls fertig. Ein Ausweichen, Entwischen, Entrinnen ist weder möglich noch gewollt. Wenn man heute zum Beispiel Schülermif- und -Selbstbestimmung fordert, so war sie schon vor 50 Jahren in der Institution des Schülerrats verwirklicht. So sind alle Erziehungs- Schul- ujjd Jugendreformen nichts anderes als ein Vollzug dieser Skizze. Man ist nur unangenehm dabei an das Experiment mit den Fliegen erinnert, denen man DDT gibt: Die erste Generation geht daran fast ausnahmslos zugrunde, in den Folgegenerationen ,gewöhnen sich immer mehr Individuen an das Neue, bis endlich eines Tages eine Generation das Gift als Normalkost benutzt. Die Wissenschaft sagt, eine Stunde Aufenthalt in der Verkehrsluft unserer Städte entspricht einem Konsum von zwölf Zigaretten. Die Spazierfahrt eines Säuglings im Kinderwagen durch die Großstadtstraßen ist demnach ein recht riskantes Unternehmen.
Haben Sie das schon bedacht, wenn Sie von Erziehungsreform reden? Oder, einfacher noch gefragt: Wow überhaupt noch solche Reformen?
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