7026021-1989_12_04.jpg
Digital In Arbeit

Zu klein fur eine Partei

19451960198020002020

Die Traditionsbestände der früheren „politischen Lager“ - zunächst Gegenkräfte zum Liberalismus - verblassen. Aber zeitgemäße und angemessene Konturierungen fehlen.

19451960198020002020

Die Traditionsbestände der früheren „politischen Lager“ - zunächst Gegenkräfte zum Liberalismus - verblassen. Aber zeitgemäße und angemessene Konturierungen fehlen.

Werbung
Werbung
Werbung

„Liberal“ ist heute eine Etikette, die keineswegs mit der Ursprungsbezeichnung des 18. und 19. Jahrhunderts zusammenfällt. Michail Gorbatschow ist „liberal“, George Bush hingegen nicht. Mieczyslaw Rakowski ist „liberal“, Robert Lichal nicht. Manche Leitartikler bezeichnen auch mich als „liberal“ (und manche von ihnen meinen das sogar als Kompliment), obwohl ich natürlich kein D.O.C.-Liberaler bin, also einer mit garantierter Ursprungsbezeichnung.

Trotz dieser verwirrenden Beispiele läßt sich das ganze nicht einfach als bloßer „Etiketten-

Schwindel“ abtun. „Liberal“ heißt in diesem alltäglichen Wortgebrauch ein Mensch, der undogmatisch und undoktrinär an die Dinge herangeht; der versucht, manchmal auch selbständig zu denken; der nicht überall nur Feinde sieht; der andere Ideen und Einstellungen auch gelten läßt, der also tolerant ist und das Recht des anderen auf seine Freiheit gelten läßt. In diesem Sinn dürfen also auch Alexander Dub- ček oder sogar Gorbatschow durchaus als „liberal“ gelten, oder auch Franz Vranitzky und Helmut Krünes - deswegen müssen wir miteinander nicht gleich eine Partei gründen.

Es wäre auch gar nicht erstrebenswert, wenn alle sogenannten Liberalen in einer einzigen Partei zusammengefaßt wären. Eine solche Partei wäre erstens ziemlich klein (und hätte dennoch überaus zahlreiche Flügel), zweitens wäre die politische Auseinandersetzung mit den anderen Parteien notwendigerweise ziemlich intolerant und illiberal. Wenn jede berechtigte geistige, politische und soziale Strömung, wenn jede gesellschaftliche Interessengruppe nur mehr von ihren „Stahlhelm“- Exponenten vertreten wird, dann hört der Pluralismus auf, in sich kommunikativ und reziprok zu sein; dann verharscht die Gesellschaft und bereitet sich auf das physische Kräftemessen vor.

Ich weiß durchaus, daß die Toleranz ihre Grenze gegen die Intoleranz ziehen muß; ich weiß, daß man sich gegenüber Unfreiheit nicht grenzenlos „liberal“ verhalten darf; ich weiß, daß die Demokratie Vorkehrungen gegen die Feinde der Demokratie treffen muß. Gerade die Selbstaushöhlung des historischen Liberalismus und seine Wandlung zu Nationalismus und Imperialismus führt uns da ein deutliches Lehrstück vor Augen, ebenso wie die Selbstabschaffung der liberalen Weimarer Republik und die parlamentarisch-demokratische Umwandlung der ostmitteleuropäischen Staaten in Volksdemokratien.

Das alles ist mir bewußt. Aber die Grenzen, wo Toleranz, Demokratie, Liberalität aufhören müssen, um nicht in ihr Gegenteil umgedreht zu werden, diese Grenzen möchte ich doch sehr weit nach vorne stecken; denn die Demokratie läßt sich auch dadurch fast umbringen, daß sie sich allzu ängstlich selbst beschützt; die McCarthy-Ära und ihre Hexenjagden sind da ein warnendes Beispiel.

Sowohl die Sozialdemokratie als auch die christlich-soziale Bewegung sind zunächst als Gegenkräfte zum Liberalismus enstan- den. Die verfassungspolitischen

Grundsätze dieser neuen Bewegungen wurden grosso modo vom Liberalismus übernommen: die Zielsetzungen waren Konstitutio- nalismus, allgemeines Wahlrecht, Rechtsgleichheit, Versamm- lungs- und Koalitionsfreiheit.

In anderen Punkten gab es Differenzen: die Sozialisten übernahmen vom Liberalismus die freidenkerisch-antiklerikale Tradition und die einschlägigen rechtspolitischen Positionen in Eherecht, Schulpolitik, Trennung von Kirche und Staat.

Wirtschaftspolitisch waren die beiden neuen Parteien gegen den Manchester-Liberalismus und forderten einschneidende Regulative seitens des Staates wie Arbeitszeitregelungen, Arbeits schütz, Sozialversicherung, Mindestlöhne — lauter illiberale Forderungen.

Der Anknüpfungspunkt zwischen Christlich-Sozialen und Liberalen lag wieder auf soziologischer Ebene — in der bürgerlichen Lebensweise und allen ihren Konsequenzen; hier war eine scharfe Grenze zur „Baraber“- und Proleten-Kultur gezogen.

In den letzten, jetzt schon sehr verblassenden Traditionsbeständen der Parteien ist das bis heute noch erkennbar — freilich nur mehr für den, der historisch geschärfte Sinne hat. Ansonsten verlieren sich heute die letzten Reste von „Stallgeruch“ - was durchaus sein Gutes hätte, wenn an seine Stelle nicht nur ein neuer Einheits-PVC-Geruch treten würde, sondern neue Erkennbarkeiten und zeitgemäßere Profilierungen.

Um nicht mißverstanden zu werden: Ich beklage keineswegs die Verwischung der Konturen der alten, überkommenen und obsolet gewordenen Identitätsbestände der früheren „politischen Lager“. Das finde ich richtig und notwendig. Ich bemängle nur das Fehlen von heutigen, zeitgemäßen und angemessenen Unterscheidbarkeiten und Konturierungen innerhalb des demokratischen und frei konkurrierenden Parteienspektrums - denn wo es keine Positionen gibt, dort kann es auch keine Diskussion geben.

Was das Verblassen alter Gegnerschaften und historischer kon- trapostischer Profilierungen ber trifft, so kann ich sie nur begrüßen. So ist auch vieles vom Gedankenschatz des historischen Liberalismus sowohl von der Sozialdemokratie als auch von den Nachfolgern der christlich-sozialen Bewegung übernommen worden, wobei es natürlich auch durch die Adaption verändert worden ist.

Die Sozialdemokratie übernahm zuerst das freisinnig-kulturpolitische Erbe des Liberalismus, die christlich-sozialen und später christlich-demokratischen und konservativen Parteien übernahmen Schritt für Schritt die liberalen Positionen in der Wirtschaftspolitik. Heute übt sich die Sozialdemokratie schon versuchsweise in Kapitalismus und Wirtschaftsliberalismus ein, und in der Volkspartei gewöhnt man sich langsam an kulturpolitischen Liberalismus.

Die Frage ist freilich - wieder ein Etikettenproblem -, ob dieser adaptierte und adoptierte Liberalismus noch irgendetwas mit Voltaire und Adam Smith, mit Kulturkampf oder Manchester-Libe-

ralismus zu tun hat. Und auch die heutigen Liberalen sind durchaus nicht mehr die alten: sie genießen die 40-Stunden-Woche und den Wohlfahrtsstaat, schicken ihre Kinder manchmal in Klosterschulen und setzen sich vehement dafür ein, daß ihre kulturpolitischen Vorstellungen vom Staat reichlich subventioniert werden.

Jedenfalls bleibt der soziale Wohlfahrtsstaat eine Herausforderung und ein Bewährungsfeld für den liberalen Gedanken, für den Anspruch auf individuelle und soziale Freiheit.

Der Autor ist Wiener Stadtrat. Aus einem Vortrag vor dem Club unabhängiger Liberaler in Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung